Leise leckte das Meer am kleinen Privatstrand der Villa Melanos. Der alte Kaufmann war die lange, in den Fels gehauene Treppe zum Meer herabgestiegen, um sich seinen Erinnerungen hinzugeben. Trotz des milden Klimas fror er in letzter Zeit ständig. Er spürte, dass es mit ihm bald zu Ende gehen würde.
Der Tot schreckte ihn nicht, denn er blickte auf ein langes, aufregendes Leben zurück. Einzig die Vorstellung, dass die Erinnerungen an all die Abenteuer und Glücksmomente mit ihm ins Grab gehen sollten, bereitete ihm Kummer. Denn sie machten seinen wirklichen Reichtum aus; machten ihn weit reicher, als all das Gold, das er so oft gewann, ...und auch wieder verlor.
Doch was bedeutete schon Gold? Melanos hatte die Welt gesehen. Er kannte die Großen und Mächtigen, aber auch das windige Gelichter. Noch besser aber, kannte er die Weiber...
Nun, diese Zeiten waren vorüber. Melanos welkte dahin. Das Rheuma machte ihm seit einigen Jahren zu schaffen. Und er hörte schlecht. Aber war sein Leib auch verbraucht, sein Verstand war noch immer sehr wach und lebendig.
Gerade hüpfte Nira, elegant das Tablett über dem Kopf jonglierend, die gewundene Treppe zum Strand hinab. Die junge, zartgliedrige Dienerin war die Freude seiner alten Tage. Er hatte sie einem bösen Schinder abgerungen. Dieser wollte sie zum Beruf der Schankdirne zwingen. Eine schmeichelhafte Umschreibung der waren Berufsbezeichnung für leichte Damen. Sie war damals noch kaum mehr als ein Mädchen, zählte vielleicht gerade achtzehn Sommer. Mit zerfetztem Gewand kam sie damals aus der Schenke gerannt, und versteckte sich flehentlich weinend hinter dem alten Melanos, als dieser gerade zufällig über den Markt schlenderte.
Kurz darauf folgte der dicke, keuchende, verschwitzte Wirt mit drohend erhobenem Stock.
Mit der Würde seines Alters (und der Kraft seiner massigen Knechte im Rücken), gebot der Kaufmann dem Schinder Einhalt. Er gemahnte den Fettwanst daran, dass ein zivilisierter Mann in diesem Lande keine Weiber, und seien es auch Unfreie, mit dem Stock zu schlagen habe.
Nach einem längeren Palaver entschloss er sich schließlich, dem Wirt eine größere Summe anzubieten, um ihm die Aufsässige auszulösen. Seine fortgeschrittenen Tage hatten das Herz des Fernhändlers schon lange erweicht.
Und diese großherzige Entscheidung brauchte er niemals zu bereuen. Denn die langgliedrige Brünette erwies sich als eine tüchtige, sehr gelehrige Schülerin. Sie wuchs ihm ans Herz wie eine leibliche Tochter. Nun, da sein Augenlicht schwand, diktierte er seine Geschichte in ihre Feder.
Mein Name ist Melanos
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