Meine kleine Schwester

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Meine kleine Schwester

Meine kleine Schwester

Anita Isiris

Nein, mittlerweile ist Jana nicht mehr wirklich klein – höchstens jung, mit ihren 22 Jahren. Jünger als ich. Das macht gelegentlich fassungslos und neidisch. Aufgewachsen sind Jana und ich in einem kleinen griechischen Dorf, wo jeder über jeden so ziemlich alles weiss. Im Gegensatz zu mir ist Jana ganz Griechin: Schlanke Figur, tiefschwarzes, schulterlanges Haar und ein „klassisches“ Gesichtsprofil zeichnen sie aus und machen sie für die hiesigen Männer absolut begehrenswert. Was Laetitia Casta oder, Carla Bruni für viele Franzosen sein mag, ist meine Schwester für die Männer in unserem kleinen Heimatdorf in Zakynthos. Sie ernähren sich von dem, was die kargen Felder hergeben, leben vom Fischfang und vom Tourismus, der in den letzten Jahren hier leider wieder abgenommen hat, und sie haben vor allem eines: viel, viel Zeit. Zeit, meine Schwester und mich zu beobachten. Sie tun dies, seit wir beide auf der Welt sind, Jana und ich. Mir war es später vergönnt, nach Athen zu ziehen, wo ich unter vielen Entbehrungen mein Abitur geschafft habe – um dann in der Schweiz und in Deutschland Sozialpsychologie zu studieren. Jana ist bis heute in Zakynthos geblieben. Ihr Herz gehört dieser Insel, die ganz in der Nähe von Ithaka, Odysseus’ Geburtsort, liegt. Jana lebt in relativer Armut und kann gerade soviel lesen und schreiben, dass sie die Abrechnungen in der kleinen Dorfkneipe machen kann, wo sie auch ihren unwiderstehlichen griechischen Salat unter die Leute bringt. Lammspiesse, Salat, Retsina. Darauf fahren die Touristen ab. Sie lieben dieses griechische Essen. Das Essen und Jana. Sie wird mit Komplimenten überhäuft und mit Blicken verwöhnt, verstohlenen und unverhohlenen.

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