Merci, Gabriel

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Merci, Gabriel

Merci, Gabriel

Chloé d'Aubigné

Doch ich fiel nicht nur Gabriel auf – er fiel auch mir auf.
Im Seminarraum folgte ich nämlich nicht nur den Ausführungen der Dozierenden, sondern ließ auch gerne meinen Blick schweifen. Weniger aus Langeweile, sondern aus Gewohnheit. Schon immer wollte ich alles erkunden, alles erfassen, alles in mich aufsaugen. Ich saß meist in der dritten Reihe, ein wenig abseits, und beobachtete die anderen. Besonders ihn. Gabriel.
Er war nicht einfach konventionell attraktiv, sondern eher von einer Schönheit, die fast unnahbar wirkte. Wie eine antike Statue, dachte ich oft, wenn ich seine feinen Gesichtszüge betrachtete, in denen ich mich oft verlor. Nichts Kantiges, nichts Markantes – alles an ihm war weich, fast zerbrechlich. Die blonden Haare waren immer ein wenig zu lange, fielen ihm leicht ins Gesicht. Aber ich hatte nie einen Zweifel daran, dass dies so gewollt war. Und da waren noch seine Hände. Seine Hände, die so zart wirkten, als könnte er mit ihnen das filigranste Kunstwerk halten, ohne dass man Angst haben würde, er könnte es zerbrechen. Es waren Hände, von denen ich mir wünschte, sie würden mich berühren. Mich überall an meinem Körper berühren. Ich wollte diese Finger spüren. Auf mir. In mir.
Er wirkte auf mich perfekt, auf andere zweifelsohne auch. Aber nicht auf eine einschüchternde Weise – eher wie etwas, das man aus der Ferne bewundert, weil man sich nicht traut, es zu berühren, da man Angst hat, man könnte es zerstören.
Es dauerte einige Seminare, bis wir miteinander sprachen. Wir waren beide schüchtern, beide eher introvertiert. Manchmal trafen sich unsere Blicke. Dann hielten wir für ein oder zwei Sekunden länger Blickkontakt, als es nötig gewesen wäre. In diesen Momenten fragte ich mich, ob er dasselbe empfand. Und ob er genauso nervös war wie ich. Vielleicht war es genau das, was mir das Gefühl gab, dass eine Verbindung zwischen uns beiden herrschte – das gegenseitige stille Eingestehen, dass wir beide nicht wussten, wie man den ersten Schritt macht.
Doch nach einem Seminar, als die anderen schon gegangen waren, blieb ich noch einen Moment sitzen. Gabriel stand unschlüssig im Raum, das Licht fiel weich auf sein Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich den Mut finden würde, ihn anzusprechen. Aber ich hatte auch die Hoffnung, dass auch er wartete. Auf mich. Und dass er hoffte, dass nun irgendjemand von uns endlich den ersten Schritt tun würde. Vielleicht war es der Lippenstift, vielleicht die Sehnsucht nach Veränderung. Ich sammelte meinen Mut, trat zu ihm und sprach ihn zum ersten Mal an. Fragte ihn ganz direkt, ob er Lust hätte, noch einen Kaffee trinken zu gehen.

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