Zwischen all den glänzenden Flakons und funkelnden Tuben im Kaufhaus verliert sich mein Blick – bis meine Finger wie von selbst nach einem Lippenstift greifen. Ich muss den Namen der Farbe nicht lesen, um zu erkennen, dass sie es ist. Der Lippenstift liegt warm und vertraut in meiner Hand, als hätte ich ihn nie vergessen. Das tiefe Rot, die schlichte goldene Hülse, der feine Schriftzug einer alten französischen Marke. Ein Hauch von Vergangenheit, der in der Luft liegt, kaum greifbar und doch so nah.
Ich öffne den Deckel, atme den vertrauten Duft ein – und plötzlich ist alles wieder da. Paris, damals, ich mit neunzehn. Unsicher, neugierig, voller Sehnsucht nach allem, was das Leben verspricht. Und Gabriel. Sein Name schwebt mir auf der Zunge, leise, fast wie ein Versprechen. Ich ertappe mich dabei, dass ich oft an ihn denke. Mehr, als ich es mir eingestehen möchte. Was er wohl heute macht? Ob er glücklich ist? Und – mit wem? Ob er manchmal an diese Nacht zurückdenkt, so wie ich? Ob sie auch für ihn etwas verändert hat?
Damals, in jenem Frühling als Austauschstudentin in Paris, war ich noch schüchtern. Ich hatte mir vorgenommen, das zu ändern – wenigstens ein bisschen. Vielleicht war es Trotz, vielleicht Sehnsucht nach etwas Neuem, die mich eines Nachmittags in die elegante Parfümerie an der Rue Saint-Honoré trieb. Der Lippenstift, den ich mir aussuchte, war eigentlich zu teuer für mein schmales Studentenbudget. Aber ich wollte vor diesen glänzenden Läden keine Angst mehr haben. Ich wollte dazugehören, wenigstens für einen Augenblick.
Zu meiner Überraschung wurde ich dort freundlich behandelt. Die Verkäuferin lächelte, reichte mir einen Spiegel, ließ mich ausprobieren, wie das Rot auf meinen Lippen wirkte. Es war ein leiser Triumph, als ich das kleine Tütchen später nach Hause trug. Ab diesem Tag trug ich den Lippenstift fast täglich, als wäre er ein Talisman gegen meine Unsicherheit.
Ich hoffte, damit aufzufallen – und fiel tatsächlich auf, aber aus ganz anderen Gründen. Es waren nicht die roten Lippen, die seine Blicke auf mich zogen, sondern, wie er mir später verriet, mein verträumter Blick, das Zögern in meinen Bewegungen, und manchmal, wenn ich über Literatur sprach, diese plötzliche Leidenschaft, die in mir aufflammte. Vielleicht hatte ich selbst nicht gewusst, wie sehr ich für Worte brennen konnte.
Merci, Gabriel
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Merci, Gabriel
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