Sie war schon älter, er schätzte sie auf mindestens vierzig. Sie war weder groß noch schlank, aber nicht so klein und stämmig, wie ihrer afrikanischen Kolleginnen oder auch indigene Typen, die er vor allem von Fotos kannte. Sie trug einen ziemlich kurzen Jeansrock und darunter Hosen, die für irgendein Label Reklame machten. Ihre Jacke war aus billigem Kunststoff und ihre Handtasche ein verstaubt wirkendes Modell. Insgesamt war sie sehr zurückhaltend gekleidet, im Vergleich zu manchen Kolleginnen, die durch aufdringliche Make-ups, gefärbte und gestylte Haare oder knappe, sexy Kleidung Aufmerksamkeit erregen wollen. Das Faszinierendste an der Mexikanerin und der Grund, warum sie ihm nicht nur auffiel, sondern sogar ziemlich interessierte, war aber ihr Gesicht. Es erinnerte ihn sofort an das Bild auf dem Einband des neu gekauften Buchs. Es war ernst, verschlossen, geheimnisvoll und ganz eindeutig auch traurig. Sie erschien ihm auf eine seltsame Weise sowohl attraktiv und zugleich sehr traurig zu sein. Von der Hautfarbe, den schulterlangen Haaren und dem Gesichtsausdruck her, hätte sie auf jeden Fall in sein Buch gepasst und er stellte sich intensiv vor, wie er sie fotografieren würde, wenn er die Gelegenheit hätte. Er würde sicher noch bessere Bilder machen, noch eindringlichere, intimere als die in dem Buch, aber eine solche Gelegenheit würde sich sicher nie bieten. Er dachte an die junge Afrikanerin, die ihn hatte abblitzen lassen, genauso würde es die Mexikanerin tun, wenn er sie anspräche.
Er hatte sie schon von Weitem gesehen, von der anderen Seite des Platzes, an dem das Imperial stand. Er überquerte den Platz und ging, scheinbar gleichgültig, langsam an ihr vorbei. Sie schaute ihn an, machte aber nicht die üblichen Annäherungsversuche, und so blieb es bei diesem kurzen Kontakt, der eigentlich gar keiner war, aber es hatte gereicht, dass nun auch ihr Bild in seinem Kopf gespeichert war und auch der Wunsch, sie doch besser kennenzulernen.
Die Mexikanerin
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Die Mexikanerin
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