Es gibt Tage, an denen habe ich das Gefühl, unsichtbar zu sein. Ständig werde ich angerempelt und egal, wie und wo ich gehe; überall steht mir jemand im Weg. So war es auch an diesem Samstag im Februar. Ich spazierte durch Hamburg, meine Stadt; vom Feen-Teich entlang der Außenalster und der Binnenalster, über den Jungfernstieg zum Rathausmarkt und am Alsterfleet entlang weiter runter zum Hafen und rüber zu den Landungsbrücken. Hier fühlte ich mich wirklich wohl! Ich beobachtete oft stundenlang die Schiffe aus aller Welt. Aber ich kann es nun mal nicht ausstehen, ständig angerempelt zu werden, wie an eben jenem Tag, an dem sich anscheinend ganz Hamburg da rumdrängte, wo auch ich gerade ging und stand. Und obwohl ich normalerweise jedem Streit aus dem Wege gehe, sagte ich mir irgendwann: Den Nächsten, der mich anrempelt, haue ich um.
Und bumm, da hatte ich auch schon wieder einen Ellenbogen, oder sonst etwas im Kreuz. Ich ballte meine Faust, drehte mich um und holte aus. Eine junge Frau starrte mich erschrocken und ängstlich an und lief lauthals schluchzend und heulend weiter. Einige Leute drehten sich um und schauten mich vorwurfsvoll an. Ich kratzte mich mit der erhobenen Hand verlegen hinter dem Ohr. Aber ich schwöre: Die Frau hatte vorher schon geweint! Nachdenklich blickte ich ihr nach. Sie lief direkt auf den Kai zu.
Noch drei Schritte, dachte ich mir, wenn sie dann nicht stehen bleibt, dann fällt sie ins Wasser.
Und plötzlich wurde es mir klar: Sie würde wirklich nicht stehen bleiben. Ihr Gang, ihre Haltung und ihre Tränen ließen nur den einen einzigen Schluss zu: Sie wollte sich umbringen!
„Hey!“ rief ich ihr hinterher. Aber sie reagierte nicht. Da sprintete ich los. Sie hatte die Kante schon erreicht und machte eben den letzten Schritt ins Leere. Da bekam ich gerade noch ihren Mantel zu fassen. Aber sie fiel einfach aus dem Mantel raus ins Wasser und ging sofort unter. Oh, wie ich es hasse, immer Recht zu haben, dachte ich mir, ließ ihren Mantel auf den Boden fallen und sprang ihr kopfüber hinterher. Ich tauchte tief in das kalte, dunkle Wasser und suchte lange, bis ich sie endlich fand und mit letzter Kraft an die Wasseroberfläche zurückbrachte. Meine Lunge schmerzte, als ich wieder atmete. Die Frau hustete schwer. Sie hatte anscheinend sehr viel Wasser geschluckt. Bis auf ihre Stiefel war sie unter dem Mantel nackt gewesen. Aber das konnte ich im Moment kaum wahrnehmen. Mit einem Arm hielt ich sie, mit dem anderen ruderte ich verzweifelt, während meine Kleidung gnadenlos und schwer nach unten zog und die Kälte begann, meine Bewegungen zu lähmen. Oben am Kai standen eine ganze Menge Schaulustiger. Ich rief ihnen zu, mir ein Seil zuzuwerfen. Aber sie rührten sich nicht. Sie kamen mir vor, wie seelenlose Zombies, die fasziniert und gebannt darauf warteten, dass wir wieder untergingen. Die Kaimauer war zu glatt, als dass ich irgendwo Halt gefunden hätte und die eisige Kälte des Wassers lähmte meine Bewegungen mehr und mehr. Eigenartige Gedanken gingen mir durch den Kopf. Die Situation war so absurd. Ich schwamm hier mit einer nackten Frau im Arm im Winter im Hafenbecken und die Zombies da oben weigerten sich, uns zu helfen. Ich sah mir jetzt zum ersten mal die Frau genauer an. Sie war ohnmächtig geworden und ich konnte ihren Kopf kaum noch über Wasser halten. Sie war noch sehr jung, mehr noch ein Mädchen, als eine Frau und eine echte Schönheit! Meine Bewegungen wurden immer langsamer. Ich merkte, wie mir die Sinne schwinden wollten und ich fragte mich, ob ich zuerst ohnmächtig werden oder untergehen würde. Aber immer noch hielt ich die Frau fest.
Plötzlich klatschte neben mir schwer ein Seil ins Wasser und irgendjemand rief von oben: „Nehmen Sie das Tau!“
Irgendwie habe ich es geschafft, die Schlinge am Ende des Seils um die Frau und mich zu legen. Dann wurden wir hochgezogen. Oben griffen viele Hände nach uns, aber wahrscheinlich eher, um die nackte Frau zu begrapschen, als um uns wirklich zu helfen. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt gewesen, das Bewusstsein zu verlieren. Aber ich fühlte mich und vor allem die junge Frau von unseren Rettern irgendwie bedroht und klammerte mich an mein Bewusstsein. Mühsam stand ich, die Frau auf meinen Händen tragend, auf und sah mich um.
„Wo ist der Mantel?“ fragte ich, bekam aber keine Antwort. Irgendjemand hatte doch tatsächlich den Mantel der Frau gestohlen, während wir um unser Leben gekämpft hatten. Ein junger Mann mit der Stimme des Mannes, der uns das Seil zugeworfen hatte, sagte: „Geben Sie sie mir. Ich kenne sie.“
„Ziehen Sie Ihren Mantel aus“, erwiderte ich, aus Angst, die Frau könnte erfrieren. Aber da kam endlich ein Notarztwagen. Die Frau wurde sofort in warme Decken gehüllt und auf einer Trage in den Wagen geschoben. Auch mich zog man aus. Man wickelte mich ein und legte mich daneben. Ich sah die Frau, ich sah, dass der Sanitäter mit mir sprach, aber ich konnte ihn nicht mehr hören. Dann wurde es schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, zitterte ich vor Kälte, obwohl ich warm eingepackt war. Die Sanitäter hatten die Frau und mich gut versorgt. Und nachdem ich ein paar Fragen beantwortet hatte, fuhren sie uns zu mir nach hause. Die Frau vertrauten sie mir wie selbstverständlich an. Sie legten sie in mein Bett, gaben mir den Rat, sie und auch mich selbst warm zu baden, da das Wasser im Hafen alles andere als gesund sei und verabschiedeten sich.
Ich ging wieder ins Schlafzimmer, um nach der Frau zu sehen. Sie war jetzt wach. Als sie mich sah, stellte sie mir die in ihrer Situation allgemein anerkannte Klischee-Frage: „Wo bin ich?“
Und ich antwortete genauso geistreich: „In Sicherheit“, was auch immer das bedeuten mochte. Da fing sie wieder an zu weinen und ich sagte, mehr zu mir selbst: „Jetzt geht das wieder los“, worauf sie nur noch lauter schluchzte.
Unsicher setzte ich mich auf die Bettkante, nahm sie zaghaft in den Arm, um sie zu trösten und sagte: „Ist ja gut!“
Und nach ein paar Minuten, in denen ich sie so hielt, beruhigte sie sich wirklich wieder ein wenig.
„So ist es schon besser“, sagte ich. „Ich lasse Ihnen erst mal ein heißes Bad ein; dann sieht alles gleich ganz anders aus. Okay?“
Sie nickte und versuchte sogar zu lächeln, während sie sich die Tränen von der Wange wischte. Also erhob ich mich, um ins Bad zu gehen.
Da klingelte es an der Tür. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich immer noch nur in eine Decke gewickelt war. Ich zog mir meinen Bademantel über und öffnete die Tür. Draußen stand der junge Mann von der Kaimauer.
„Hey“, grüßte er. „Ich will Michelle abholen.“
„Michelle?“ fragte ich.
„Du weißt schon; das Mädchen!“
Damit wollte er auch schon an mir vorbei in die Wohnung gehen. Aber ich hielt ihn zurück.
„Ich fürchte, das wird nicht gehen. Michelle, oder wie sie heißt, braucht jetzt dringend Ruhe.“
„Keine Angst,“ erwiderte er „die hat sie bei mir.“
Und damit wollte er sich von mir losmachen und weiter in meine Wohnung eindringen. Aber ich ließ nicht los.
„Okay“, sagte ich „ich werde sie fragen. Wie heißen Sie?“
„Sag’ ihr, Benno ist da.“
Soweit ich als Mann das beurteilen kann, sah der Typ wirklich gut aus. Aber irgendwie wollte er mir trotzdem nicht gefallen. Ich ließ ihn los und ging ins Schlafzimmer. Michelle war aufgestanden. Sie sah hinreißend aus, wie sie da in ihre Decke gewickelt dastand.
„Was ist los?“ fragte sie.
„Da ist ein Benno, der Sie abholen will“, antwortete ich.
Sie erschrak und schüttelte ungläubig und ängstlich den Kopf. Aber da stand der Typ auch schon wieder hinter mir und drängte sich an mir vorbei ins Schlafzimmer.
„Hey Babe“ sagte er, „was machst Du für einen Blödsinn, wo ich so viel in Dich investiert habe? Los, zieh Dich an. Wir gehen!“
Michelle zog sich verängstigt in den hintesten Winkel des Zimmers zurück und antwortete: „Ich will nicht mitkommen, Benno. Bitte lass’ mich.“
Benno lächelte gefährlich und ging auf Michelle zu. Er streckte die Hand nach ihr aus und setzte an, etwas zu sagen. Aber ich war ihm gefolgt, packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu mir um.
„Du hast gehört, was sie gesagt hat. Wenn ich Dich also bitten dürfte, meine Wohnung zu verlassen!“
Aber er dachte gar nicht daran. Er schubste mich brutal an die Wand und sagte: „Halt’ Dich da raus, Junge!“
Das hätte er nicht tun sollen! Ich kann es doch nicht ausstehen, geschubst zu werden. Als er sich wieder zu Michelle drehte, trat ich ihm voll in den Arsch. Man möge mir bitte die Ausdrucksweise an dieser Stelle verzeihen.
Wutschnaubend drehte er sich zu mir um. Ich glaube, er wollte etwas sagen. Aber dazu kam er nicht mehr. Ich schlug nur ein einziges mal zu. Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich nicht gut dabei gefühlt hätte. Er fiel um wie ein nasser Sack und es war irgendwie schön, zu sehen, dass er jetzt gar nicht mehr so gut aussah, mit dem gebrochenen Kiefer.
Während er noch bewusstlos war, durchsuchte ich seine Taschen. Sein Ausweis lautete auf den Namen Karl Berger. Darin war die Karte eines Bewährungshelfers. Er trug eine teuere Armbanduhr und goldenen Schmuck. Außerdem hatte er mehrere tausend Euro und eine geladene Waffe ohne Registriernummer bei sich.
„Ein Zuhälter!?“ sagte ich mehr als Feststellung, denn als Frage. Michelle nickte und nieste. Und wieder bemerkte ich, wie bezaubernd schön sie war.
„Sie müssen baden!“ sagte ich.
„Und was ist mit ihm?“ entgegnete sie.
„Er wird Ihnen nichts mehr tun! Wenn er aufwacht, bringe ich ihn raus.“ Michelle sah mich ziemlich skeptisch an.
„Vertrauen Sie mir!“ sagte ich. Aber sie schüttelte den Kopf und entgegnete mit einem Nicken in Bennos Richtung: „Der letzte, der das zu mir sagte, war er.“
„Gehen Sie baden!“ wiederholte ich in einem Ton, der Vertrauen erwecken sollte. Und sie ging auch wirklich ins Badezimmer.
Die Waffe nahm ich zu meiner eigenen Sicherheit an mich. Und als ich daran dachte, dass Michelle zumindest im Moment nichts mehr hatte, außer einem Paar nasse Stiefel, sagte ich zu mir Geld stinkt nicht und nahm eintausendfünfhundert Euro aus der übervollen Geldbörse. Langsam kam Berger wieder zu sich und stellte, sich sein verbogenes Kiefer haltend, mit schmerzverzerrtem Gesicht die gleiche dumme Frage, die erst wenige Minuten vorher Michelle gestellt hatte: „Wo bin ich?“
Nur meine Antwort war diesmal eine andere, als ich erwiderte: „Ich würde sagen, Du bist ganz schön im Arsch!“
Er sah mich an und wusste augenblicklich wieder, wo er war. Instinktiv griff er nach seiner Waffe. Aber die war ja nicht mehr da.
„Tz, tz, tz“ sagte ich. „Hast Du nicht schon genug Ärger?“
Er blickte mich verständnislos an und ich fuhr fort: „Karl Berger, genannt Benno, fünfunddreißig Jahre alt, vorbestraft wegen … was war es doch gleich?“
Nachdem er nicht antwortete, tat ich es selber. „Zuhälterei!“
„Wer bist Du?“ fragte er mich. Aber ich schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ich glaube, Du verstehst die Situation hier noch nicht ganz. Es spielt doch gar keine Rolle, wer ich bin. Wichtig ist doch nur, dass ich weiß, wer Du bist. Was würde wohl Dein Bewährungshelfer sagen, wenn er uns jetzt hier sehen könnte?“
Er dachte eine Weile nach. Dann fragte er mich: „Was willst Du von mir?“
„Na also“, entgegnete ich. „Das ist doch schon viel besser.“
Und nach einer kurzen Pause fuhr ich fort: „Ich will, dass Du Michelle in Ruhe lässt. Und ich möchte Deine Visage nie wieder sehen!“
Langsam stand er auf.
„Kann ich gehen?“ fragte er.
„Sicher“, antwortete ich und deutete mit der offenen Hand in Richtung Tür.
Er war schon fast draußen, als ich ihn noch einmal zurückhielt.
„Nur eines noch“, flüsterte ich ihm bedrohlich ins Ohr. „Sollte Michelle irgendetwas, egal was, zustoßen, leg’ ich Dich mit Deiner eigenen Kanone um. Und sollte mir etwas passieren, dann wirst Du der Polizei einiges zu erklären haben. Haben wir uns verstanden?“
Ich sah, dass er nicht antworten wollte. Aber noch hielt ich ihn an der Schulter fest, bis er schließlich nickte.
„Was war das?“ fragte ich. „Ich hab Dich nicht verstanden.“
Jetzt endlich presste er ein „Ja“ hervor.
„Gut“, sagte ich und ließ ihn los. In stolzer Haltung und ohne sich umzudrehen, ging er davon.
Da fühlte ich Michelles Blick in meinem Nacken. Ich schloss die Tür und drehte mich um. Sie stand in der Badezimmertür und schaute mich mit großen Augen an, ohne etwas zu sagen. Sie war wirklich schön!
„Ist alles okay?“ fragte ich. Sie nickte und ging wieder ins Bad. Ich hörte, dass sie sich jetzt endlich Badewasser einließ. In der Zwischenzeit ging ich in die Küche und machte Glühwein heiß. Ich füllte eine Tasse, gab einen guten Schuss Rum dazu und ging damit zur Badezimmertür. Ich klopfte und fragte: „Michelle?“
„Ja“ antwortete sie.
„Kann ich reinkommen?“
„Bitte!“
Ich öffnete die Tür. Michelle lag bis zur Nasenspitze im heißen Schaumbad.
„Ich hab hier Glühwein. Der wird Ihnen gut tun“, sagte ich und stellte die Tasse auf das Schränkchen neben der Wanne.
„Danke“ antwortete sie.
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“ fragte ich. Aber sie schüttelte den Kopf und antwortete: „Nein danke.“
Damit wollte ich das Bad wieder verlassen. Aber als ich schon wieder in der Tür war, rief sie mir hinterher: „Hey!“
Ich drehte mich um. „Ja?“
Sie hatte sich etwas aufgesetzt und fragte mich: „Wie heißen Sie eigentlich?“
Ich musste lächeln. „Tut mir leid. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mich vorzustellen.“
„Richtig“, entgegnete sie. „Als wir uns trafen, wollten Sie mich, glaube ich, umhauen!?“
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg und stotterte: „Ich … äh …“
Aber Michelle half mir wieder aus der Verlegenheit, indem sie fortfuhr: „Ich wollte Ihnen nur danken. Sie haben mir das Leben gerettet und noch viel mehr.“
Ich wehrte verlegen ab: „Bitte nicht. Ich habe nichts getan, was nicht jeder andere an meiner Stelle auch getan hätte.“
„Wer?“ fragte sie. „Die Zombies?“
Ich konnte mich nicht daran erinnern, diesen Gedanken ausgesprochen zu haben, als wir da unten im Hafenbecken um unser Leben gekämpft hatten. Und war Michelle zu dem Zeitpunkt, als ich das gedacht hatte, nicht schon ohnmächtig gewesen?
„Die Zombies?“ wiederholte ich deswegen verwundert ihre Frage.
„Waren das nicht Ihre Gedanken?“ fragte sie.
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Was wissen Sie von meinen Gedanken?“
„Bitte sag nicht Sie zu mir.“ entgegnete sie, bevor sie auf meine Frage antwortete und mich dabei selbst zu Duzen anfing. „Eigentlich weiß ich gar nichts von Deinen Gedanken. Nur als Du da unten im Hafen eher selbst mit mir ertrunken wärst, als mich wieder loszulassen, schienen sie mir irgendwie sehr klar zu sein.“
Michelle & Michael
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