Ich lebe jetzt im Untergrund.
Da die Lust auf der Oberfläche verboten wurde, ebenso wie alle Vorstufen wie Tanzen, Zusammen sitzen, sich nahekommen, Flirten, Trinken, Risiken eingehen, da die Menschen zu verängstigen bewegungslosen erstarrten Lemmingen gemacht werden sollen und zum großen Teil auch wurden und zwar in allen Altersstufen (erkennbar daran, dass sie sich unter freiem Himmel mit Masken auf dem Gesicht bewegen), ja also genau deshalb fröne ich meiner Lust inklusive Risikobereitschaft nun im Untergrund.
Ein Ort dafür ist die erotische Berliner Bar mit dem schönen Titel „Möchtegern“. Ich kenne sie seit vielen Jahrzehnten und habe immer, wenn ich in der Hauptstadt war, einen Abstecher dorthin gemacht. Durch geheime Informanten habe ich erfahren, dass der Lockdown dem Möchtegern nichts anhaben konnte. Es hat geöffnet, egal, was draußen nicht los ist. Man geht jetzt eben durch die Hintertür.
Ich klopfe im vereinbarten Rhythmus und die Tür wird einen Spalt breit geöffnet. Ein glattes Gesicht, eine glänzende Glatze, ein enganliegendes Lackhemd sind dahinter zu erkennen. „Hallo Tom“, sage ich. „Ich möchte gern.“ Das ist das Codewort. Es ist so naheliegend, dass es schon wieder geheim ist.
Schon nach den ersten Schritten atme ich den geliebten muffigen Geruch ein, uralte Polster und Matratzen getränkt mit Schweiß und Sperma und Muschisäften, kalter Rauch, denn auch Rauchverbote werden hier natürlich ignoriert, Alkoholdunst und Reste von Putzmitteln, mit denen ab und zu versucht wird, einen letzten Rest von Hygiene aufrecht zu erhalten. So war es jedenfalls früher immer. Seit aber diverse Hygieneverordnungen in Kraft getreten sind, werden im Möchtegern mit Absicht die für ein gutes Immunsystem notwendigen Ansammlungen von Bakterien und Viren aller Art intensiv gepflegt und das Putzmittel bleibt im Schrank. Ein Besuch hier ist also nicht nur eine Sättigung vernachlässigter Geschlechtsorgane, sondern auch ein Pimpen der Gesundheit und Abwehrkräfte.
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