Morgenlauf

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Morgenlauf

Morgenlauf

Johannes Seilmann

Mist!
Sie war in ihrem Übermut so überrascht, dass sie erst mal lachen musste. Einen Moment später meldete sie der Verstand. Aufstehen, nach Hause laufen, die Wäsche in die Maschine und duschen. Nicht, dass sie sich was holte. Wer holt sich schon freiwillig eine Erkältung? Der Witz der Formulierung wurde ihr klar, wieder musste sie lächeln. Dabei wurde ihr bewusst, dass es gar nicht so kalt war. Sie entspannte sich und machte einen Versuch aufzustehen. Ihre Hand fand beim Aufstützen nicht recht Halt im Matsch und so landete sie mit einem Platscher wieder in der Pfütze. Sie griff in den weichen Lehm. Seltsam, wie offen sie heute war für solche Sinneseindrücke. Ganz bewusst nahm sie wahr, wie der Lehm durch ihre Finger glitt. Zum Glück hatte sie sich beim Sturz nicht weh getan. Sie kniete mitten in der Pfütze auf allen Vieren und versuchte aufzustehen. Kurz vergegenwärtigte sie sich das Bild, das sie gerade abgab. Wenn jetzt jemand kommen würde!
Peinlich, peinlich. Aber dann kam ihr noch ein anderer Gedanke. Es gab jemanden, der diesen Anblick sehr genießen würde. Ein warmes Gefühl durchfuhr sie. Durfte sie das? Hier im Dreck liegen, nass, verschwitzt und schmutzig und an so was denken? „Doch“ sagte eine innere Stimme, ein wenig zu laut, zu entschieden, um sich ganz sicher zu sein. Aber das Gefühl blieb.
Einen Moment später siegten der Mut und die Neugier über die Vernunft. „Nun sei doch vernünftig“, hörte sie eine innere Stimme. Heute würde sie nicht auf diese Stimme hören. Ganz langsam ließ sie sich in die schlammige Pfütze zurück gleiten. Ganz bewusst wollte sie jetzt spüren. Ganz wollte sie sein, alles wollte sie. Das warme Wasser, den weichen Lehm unter sich. Ihre Finger gruben sich tief hinein. Sie bewegte sich, suhlte sich regelrecht, spürte den glitschigen, weichen Lehm überall und versank einen Augenblick in ihren Gedanken.
Wie lange sie dort blieb, konnte sie hinterher nicht mehr sagen. Sie machte sich auf den Rückweg, niemand begegnete ihr. Zu Hause ging sie - noch bekleidet - unter die Dusche und überließ dort endlich ganz ihren Phantasien und Gefühlen.

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