Der „Mut zur Lücke“ nervte mich zum allerersten Mal, als ich mit achtzehn nach Zürich kam und dort ein Jahr in einer Privatschule absitzen musste.
Der „Mut zur Lücke“ wurde von meiner damaligen Mathematiklehrerin erbracht. Sie bewegte sich gazellenhaft, was wohl mit ihrer eindrücklichen Grösse zu tun hatte. Rita Wehrendt war nicht nur spindelschlank, sondern auch ca. 195 cm gross, so schätzten wir damals. Stets trug sie hoch geschlossene bunte Blusen und riesengrosse goldene Ohrringe; daran erinnere ich mich genau. Und, ja, knallenge Trikothosen, die ihren „Mut zur Lücke“ zeigten. Für die Jungs der Klasse 1 c war Rita Wehrendt Offenbarung. Wir befanden uns alle mitten in der Pubertät, aber für die Kerle war unsere Mathematiklehrerin und ihr „Mut zur Lücke“ DAS Highlight in öden Schulstunden.
Frau Wehrendts Hose war so eng, dass die Lücke zu sehen war, die Lücke, die entsteht, wenn Frau sich in zu enge Beinkleider zwängt und sie erst noch zwischen die Schamlippen hochzieht. In den Pausen spekulierten wir Mädchen aus der vordersten Reihe uns heiss, ob Frau Wehrendt sich absichtlich so anzog oder – falls nicht – ob wir sie nicht vielleicht mal, so ganz unter Frauen, aufmerksam machen sollten auf diese anatomische Peinlichkeit. Die Jungs verhielten sich unfair. Rita Wehrendt war, wie gesagt, von grosser Gestalt. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, grosse braune Augen und eine markante Nase. Sie hatte entfernte Ähnlichkeit mit einer Giraffe, was ihr den Übernamen „Fützligiräffli“ (deutsch: Fotzengiraffe) einbrachte. Das empfand ich schon damals als frauenverachtend. Meinen Freundinnen ging das genau so. Frau Wehrendt war das, was wir heute cool nennen würden. Ganz locker vom Hocker warf sie uns binomische Formeln an den Kopf, zirkelte Trigonometrisches an die Wandtafel und führte uns galant zur Integralrechnung.
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.