Nackt auf der Opferpyramide

2. Teil aus "Schwüle Nächte im Urwaldtempel"

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Nackt auf der Opferpyramide

Nackt auf der Opferpyramide

Peter Hu

Ich spürte nicht die geringste Furcht, als ich unter dem Jubel meines geliebten Volkes über die lange, gepflasterte, mit Blüten bedeckte Allee entlang schritt. Aufrecht, stolz, vollkommen nackt, ...nur angetan, mit meinem goldenen Körperschmuck, der meinen herausragenden Rang symbolisierte.
Tausende Augen ruhten auf mir. Aller Hoffnungen lagen auf meinen Schultern. Alle Männer begehrten mich. Denn ich war die Schönste der Schönen; ausgewählt vor langer Zeit.
Alle Frauen beneideten mich. Doch sie liebten mich trotz des Neides. Denn ich entfachte das Feuer in den Lenden ihrer Gatten. Nicht wenige verdankten ihren Kindersegen meiner Erscheinung. Gerade nach den Ritualen wurden viele schwanger. Da konnte man nach dem Kalender gehen. Denn ich war die inspirierende Mutter des Volkes, auch wenn ich selbst nicht gebären durfte. Als Gemahlin des Königs, war ich auch die Braut der Götter. Ich trug nicht nur den goldenen Körperschmuck. Es gab auch einen kleinen chirurgischen Eingriff, der meine Kinderlosigkeit für alle Zeit garantierte. Mein Gatte hatte genügend Nebenfrauen, welche die königliche Blutlinie sicher stellten. Doch ich war die Königin. Unangefochten!...

Am Ende der Allee wartete die berüchtigte „Gasse“ auf mich: Eine Doppelreihe von hohen, männlichen Priestern. Als ich sie erreicht hatte, nahm man mir die königlichen Insignien, also auch jeglichen goldenen Schmuck.
Vollkommen nackt, würde man mich in der Gasse begrüßen; mit bösartigen Ruten. Denn als Mutter des Volkes hatte ich versagt. Der Regen war ausgeblieben, die Ernte war verdorrt (ja, unsere Stadt war riesig. Wir brauchten Unmengen von Holz, um unsere Metalle zu schmelzen. Vom großen Wald war nicht mehr viel übrig. Die Wolken zogen immer öfter einfach vorbei).
Doch als ich die Gasse durchschritten hatte, brandete mir erneuter Jubel entgegen. Denn trotz all der Spuren auf meinem Leib: Ich ging noch immer stolz und aufrecht, als ich die ersten Stufen zur Opferpyramide erreicht hatte.

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