Nackt im Antiquariat

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Nackt im Antiquariat

Nackt im Antiquariat

Anita Isiris

„Darf ich?“ Nathalie Zenger knöpfte ihren Wintermantel auf. „Ich möchte mit Ihnen reden.“
Herr Meylan riss überrascht die Augen auf. Schon seit Ewigkeiten hatte niemand mehr mit ihm reden wollen. „B…bitte, kommen Sie nach hinten, da ist's gemütlicher.“
Nathalie trug einen weißen Rollkragenpulli, unter dem nicht viel auszumachen war. Sie war, wie gesagt, sehr schlank. Die fein geränderte Brille verlieh ihr einen akademischen Hauch.
„Ich bin Germanistin, müssen Sie wissen, und Ihr Antiquariat …“.
„Gleich sind wir hinten, ich koche Ihnen einen Tee. Vorsichtig setzte sich Nathalie auf einen wackligen Schemel und blickte Herrn Meylan aus fröhlichen, wasserklaren Augen an. Als er sich zu ihr setzte und aufs Brodeln des Wasserkessels wartete, kam sie gleich zur Sache. „Ich möchte Ihnen gerne im Laden behilflich sein. In Teilzeit. Dieses Antiquariat ist mein Traum, und ich dachte mir, dass ich Ihnen vielleicht Gesellschaft leisten könnte? Mein Wissen über Literatur ist nicht unbeträchtlich, wissen Sie, und ich …“
Herr Meylan schluckte leer. So etwas hatte er nicht erwartet. Sofort kam in ihm der Buchhalter zum Vorschein. Das Geschäft brachte ja kaum etwas ein. Sein Einkommen war äußerst knapp, und eine Angestellte konnte er sich schlicht nicht leisten. Das sagte er Nathalie auch. Diese lächelte verschmitzt. „Ich nehme auch Naturalien“, sagte sie. „Dann und wann ein Buch … bitte!!!“ Trotz seines Alters war Herr Meylan ein schneller Denker. Vielleicht konnte diese hübsche junge Frau seinen Laden ja wieder etwas in Schwung bringen.

Sie wusste bestimmt bestens, wonach ihre Kommilitonen suchten, und etwas Gesellschaft für ihn selbst … da begann der Teekessel zu singen. Herrn Meylans Laune steigerte sich augenblicklich. Er klaubte seine Lieblingskekse aus dem Küchenschrank und richtete sie auf einem Teller her.
„Ja“, sagte er, „ja. Ist das wirklich Ihr Ernst?“
„Klar“, antwortete Nathalie unumwunden. „Ich wohne hier gleich gegenüber, und wir könnten uns doch entgegenkommen, Sie und ich.“ Die beiden wurden handelseinig, und am nächsten Tag nahm Nathalie ihren Dienst auf. Sie war flink, kletterte behände die schwere Leiter rauf und runter, ordnete hier einen Bücherstapel, staubte dort ein Regal ab und machte den alten Buchhändler glücklich. Allein … die Kunden blieben aus, nach wie vor. Wieder schneite es. „Wovon leben Sie eigentlich?“ Nathalie hatte eine sehr direkte Art, die Herrn Meylans Generation fremd war.

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