Nackt im Antiquariat

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Nackt im Antiquariat

Nackt im Antiquariat

Anita Isiris

Es herrschte tiefster Winter an der Universitätsstraße. Kein Mensch war zu sehen; Herr Meylan saß einsam hinter einer Schale mit dampfendem Kaffee in der alten Küche, die längst hätte renoviert werden müssen. Heute war sein 79. Geburtstag, und er sehnte sich nach seiner Frau. Wie oft hatte sie ihm liebevoll Geburtstagskuchen gebacken; wie gerne war er überrascht worden durch ihre zärtlichen Zuwendungen. Schon lange war sie tot. Herr Meylan führte das unscheinbare Antiquariat allein. Es begann zu schneien. Der Kühlschrank surrte leise, und über ihm tickte die Wanduhr. Dieses Ticken hörte er aber nicht mehr. Seine Ohren bekundeten Mühe. Dafür waren seine Augen umso besser. Nur ganz selten benutzte er eine Brille, stets dann, wenn er etwas ganz genau betrachten musste. Überhaupt war die Welt kälter geworden in den letzten Jahren, fand er. Nur noch selten verirrte sich ein Student zu ihm; die Kunden verweilten aber nie lange. Das ganze Wissen, das bei ihm in zehntausenden von Büchern gelagert war, gab’s ja mittlerweile im Internet.

Herr Meylan schlurfte zur Holztreppe und machte sich auf den Weg in den Verkaufsraum. Seufzend setzte er sich hinter das schwere antike Pult mit der altmodischen Registrierkasse. Da ging die Türklingel. Herein kam eine junge, gertenschlanke Frau mit langem, dunkelbraunem Haar und einer schwarzen Baskenmütze, auf der sich Schneespuren zeigten. Dienstfertig stand Herr Meylan auf und blickte sie fragend an.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Baudelaire. Haben Sie Baudelaire da? Außerdem suche ich eine Gesamtsammlung von Rilkes Werken.“
„Ach, der alte Rainer Maria. Klar.“ Herr Meylan sprach von diesen alten Poeten oft mit deren Vornamen, so, als hätte er sie persönlich gekannt. Das war ja auch fast so. Seit über fünfzig Jahren gestaltete er nun dieses Antiquariat; räumte die Berge von Büchern stets aufs Neue um, treppauf, treppab, bis in die hintersten Winkel dieser Goldgrube. „
Ich bin Nathalie“, lächelte die Studentin und entledigte sich ihrer Mütze. „Meylan ist mein Name, sehr erfreut“, gab sich der alte Buchhändler förmlich.

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