Nackte Gaby

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Nackte Gaby

Nackte Gaby

Anita Isiris

Gaby war eine typische Gaby. Sie hatte keine Ahnung, wie sie wirkte. Als sie so vor dem Spiegel stand und ihr schulterlanges, braunes, gewelltes Haar in einen Pferdeschwanz fasste, entdeckte sie in ihren Achselhöhlen ein paar Härchen, die sie sich anschliessend wegtrimmte. Das Blumenkleid stand ihr gut ins Gesicht, fand sie. Grüne Augen, grün-blaue Blumen auf weissem Stoffgrund. Gaby war nicht schlank, aber auch nicht fett. Sie gehörte zu den Frauen, die mit ihrer Figur nicht zufrieden waren – wer denn schon…

Zierlicher, schlanker Oberkörper, viel zu kleine Brüste, fand sie – breite Hüften und viel zu grosser Arsch, wusste sie. Selbst ihre besten Freundinnen hatten sie schon damit aufgezogen. Mit ihrem Arsch. Der einfach war, wie er war. Und noch gleichentags mehreren jungen Männern feuchte Träume bescheren würde… aber das wusste Gaby noch nicht, als sie an jenem Morgen ihr Haar richtete und ihre Härchen wegrasierte.

Es war Hochsommer, 2019, und alle litten. Die Kaninchen im überhitzten Gartenverschlag, die Bienen, die keine Blüten mehr fanden, die Männer, die sich wegen #metoo gar nichts mehr getrauten. Gaby, die wusste, dass in Kürze Schweissflecken den Stoff ihres Kleides unter den Armen verunzieren würden. Diese verdammten beiden feuchten Flecken, diese Halbmonde, die jede von uns bestens kennt.

Gaby war Lehrerin an einer Fachhochschule für Sozialarbeit. Sie liebte ihren Job über alles, oh ja… sie mochte Gespräche, sie mochte Geheimnisse, und sie mochte die Nähe von Menschen. Wie ein Fisch im Wasser fühlte sie sich, wenn sie vor den Kursteilnehmer_innen stand und ihnen das eine oder andere Modell näherbrachte. Watzlawic. Schulz von Thun. Milieutherapie nach E. Heim. Sie war sehr selbstbewusst, und sie ahnte, dass die Studierenden ihr aufmerksam folgten. Sie ahnte aber auch, dass die Kurse sozusagen dreigeteilt waren. Da gab es die Zalando-Fraktion. Die hängten von Anfang an ab und waren eher im hinteren Drittel des Klassenraums anzutreffen. Ging sie zwischen den Pultreihen hindurch und näherte sich dieser Fraktion, ruckelten die jungen Frauen – es waren zumeist Frauen – nervös an ihren Notebooks. So, als täten sie etwas Verbotenes. Dabei war es doch das Wesen der Erwachsenenbildung, dass jede_r tun und lassen konnte, was sie_er wollte. In eigener Verantwortung. Oder etwa nicht?

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