Nasse Kleider

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Nasse Kleider

Nasse Kleider

Anita Isiris

Sie durchquerten einen langen Korridor, bogen um eine Ecke und betraten einen grossen, einfachen Raum, in dem ein Kaminfeuer brannte. Der Alte blickte sie neugierig an und bot ihr die Sitzbank an. „Hier kommt selten wer vorbei, und so Hübsche wie Du schon gar nicht.“ Diese Anzüglichkeit irritierte Sabine, aber sie ging darüber hinweg und sah sich um. Der Raum war spärlich eingerichtet. Ein farbiger Flickenteppich lag am Boden, vor sich hatte sie einen schweren Eichentisch und von den grauweissen Wänden hingen mehrere Hirschgeweihe. Sie öffnete den Reissverschluss ihres Anoraks. „Kann ich...“ Als ob er Gedanken lesen könnte, wies er auf eine Ablage. Sabine zog ihre Jacke aus und setzte sich wieder. Sie schauderte. Das Material war nicht wirklich wetterfest gewesen; sie war nass bis auf die Unterwäsche. „Tee?“ Sie nickte.
Der Alte schlurfte in einen Nebenraum und bald schon hörte Sabine Teewasser zischen. Dann setzte er sich zu ihr und sie begann zu erzählen. Ab und zu durchfuhr sie ein Kälteschauer, was ihm nicht entging. „Ich hab ein paar trockene Kleider da“, murmelte er und kehrte nach wenigen Minuten mit dem Teekessel in der linken Hand und einem Berg Klamotten auf dem rechten Arm zurück. „Such Dir was aus!“
Es waren sehr viele Frauenkleider! Sabine war also nicht die Erste in dieser Waldhütte – was sie eher erstaunte. Wer waren wohl ihre Vorgängerinnen? Er schenkte ihr Tee in eine Tonkachel ein und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, etwas Trockenes anzuprobieren. „Hier?“ entfuhr es Sabine. „Brauchst Dich vor mir nicht zu schämen“ – wieder schien er ihre Gedanken erraten zu können. Langsam wurde es gemütlich warm. Sabine nahm einen kräftigen Schluck vom offerierten Gebräu und wurde sogleich von einem Hustenanfall geschüttelt. Der Alte hatte etwas Hochprozentiges hineingemischt. „Komm, hab Dich nicht so!“
Ausser der angrenzenden Küche gab es wohl keinen weiteren bewohnbaren Raum.

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