Unter normalen Umständen hätte sich Sabine ohne weiteres ein Hotel leisten können. Die Umstände waren aber nicht normal. Es regnete in Strömen. Mit Mühe hatte sie endlich einen Unterschlupf gefunden: Er bestand aus einem rostigen Wellblechdach an einer steilen Böschung. Das Dach wurde von vier morschen Pfeilern gehalten, die einzustürzen drohten, wenn Sabine sich bewegte. Als der Regen nach Stunden etwas nachliess, trat Sabine aus ihrem Schutz hervor und rieb die klammen Finger an ihrem Anorak. Ausser dem Rauschen der Bäume über ihr war es still. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war – aus unerfindlichen Gründen hatte sie die Single-Wandergruppe verloren, der sie sich angeschlossen hatte. Nach einem zehnminütigen Fussmarsch war ihr die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben – da sah sie endlich die Umrisse eines Hauses vor sich. Auf diese Distanz wirkte es etwas unheimlich, aber immerhin: ein Haus! Sabine näherte sich und betrat vorsichtig die breite Veranda. Einige Bodenbretter waren durchgebrochen, und das Gebäude wirkte unbewohnt. Da sah sie durch eine zerbrochene Fensterscheibe hindurch Licht. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie war auf jemanden angewiesen, der ihr sagte, wo sie war oder ihr die Richtung wies. Ihre braunen Locken hingen ihr triefnass ins Gesicht und verdeckten beinahe ihre Augen, die aufmerksam nach einer Klingel suchten. Sie fand keine und klopfte an – erst zaghaft, dann kräftiger.
Da hörte sie schlurfende Schritte und trat innerlich die Flucht an. Die Tür öffnete sich knirschend und vor ihr stand ein bärtiger Mann in einem fleckigen Hemd, der so aussah, als hätte sie ihn gerade beim Malen gestört. „Könnten Sie mir bitte...“
„Komm rein!“ Er musterte sie von oben bis unten, war aber nicht unfreundlich. Mechanisch folgte ihm Sabine – unheimlich war ihr noch immer zumute.
Nasse Kleider
6 4-7 Minuten 0 Kommentare
Nasse Kleider
Zugriffe gesamt: 7097
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.