Neue Hoffnung

Hochhausromantik - Teil 4

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Neue Hoffnung

Neue Hoffnung

Yupag Chinasky

Er wünschte sich in dieser verfahrenen Situation Trost und körperliche Nähe. Seine Frau war nach dem Krach aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, schlief auf der Couch im Wohnzimmer und mied fast jeden Kontakt mit ihm. Er hatte, als er nach Thailand gefahren war, sein Handy zu Hause gelassen, weil er glaubte, es dort nicht zu brauchen, was auch durchaus zutraf. Als er wieder daheim war, hatte er die Mailbox abgehört. Es waren etwa ein halbes Dutzend Anrufe von Jessi gespeichert, keiner von Naomi. Sie entschuldigte sich für ihr Verhalten, fragte, warum er sich nicht melde, später, ob er immer noch böse sei und der letzte Anruf klang ziemlich verzweifelt. Er solle sie doch bitte sofort zurückrufen, es sei sehr dringend und sie bräuchte unbedingt seine Hilfe. Dieser Anruf war eine Woche vor Weihnachten gekommen. Er hatte nach dem Abhören sofort die Nummer von Jessi gewählt, aber eine Ansage informierte ihn, dass die Nummer gelöscht worden war. Das wunderte ihn. Er hatte zwar gewusst, dass sie über Weihnachten nach Afrika fahren und erst im Januar wieder kommen wollte, aber musste man da gleich das Handy abmelden? Dann hatte er Naomi angerufen. Sie war nicht da oder nahm das Gespräch nicht an und so hinterließ er nur eine Nachricht auf der Sprachbox, sie solle ihn zurückrufen, es sei dringend. Sie rief nicht zurück, und als er am nächsten Tag noch einmal anrief, erreichte er auch wieder nur die Sprachbox. Dann hatten ihn seine anderen Probleme in Beschlag genommen und erst jetzt, als er untätig zu Hause herumsaß, überlegte er sich, wie er den Kontakt zu den beiden wieder aufnehmen könne, und kam sogar zu einem Entschluss.

Er fuhr zu dem Hochhaus und nahm den Lift in den achten Stock. Das Türschild mit den Namen der beiden Frauen war leer, ebenso das Schild am Briefkasten, wie er feststellte, als er das Haus wieder verließ. Er klingelte, nichts tat sich. Daraufhin klingelte er bei der Nachbarwohnung. Eine ältere Frau öffnete die Tür. Ob sie wisse, wo die beiden schwarzen Frauen seien, die aus der Wohnung gegenüber. Dir Frau schaute ihn verächtlich an. „Ach, sie meinen die beiden Huren. Die sind schon vor Weihnachten ausgezogen. Das ging ganz schnell. Die mussten wohl ausziehen, weil auch noch die Polizei da war. Ich hatte schon Angst bekommen, dass was passiert sei. Aber die Polizei hat gesagt, es sei nichts passiert. Ich hab dann gefragt, was los sei, aber das wollten sie mir nicht sagen, nur soviel, sagte der eine, nein es war eine junge Frau mit Pferdeschwanz, es sei etwas mit der Aufenthaltserlaubnis, die müsse überprüft werden.“ Nein, wohin sie gezogen seien, wisse sie nicht. Die Wohnung stände jetzt jedenfalls leer, aber sei sicher kein Problem, fügte sie süffisant hinzu, Ersatz zu finden.

In den darauf folgenden Tagen war er voll mit sich selbst beschäftigt, mit einer Art Nabelschau. Alles schien sich gegen ihn verbündet zu haben. Der Tripper war zwar weg, dafür hatte er aber ein Magengeschwür bekommen oder irgend so etwas, ein Leiden, das ihn arg plagte und ihm alle Freude am Essen und Trinken vermieste. Seine Frau drängte ihn täglich, er solle sich eine Wohnung suchen und ausziehen. Sie wolle sich nicht mit einem arbeitslosen, total gelangweilten, frustrierten Typ herumschlagen. Ihr Gezänk nervte ihn, er musste etwas machen, er musste hier raus, sich etwas anderes suchen und nach einigem Nachdenken, hatte er eine Idee. Er machte sich erneut auf den Weg zum Hochhaus, ging aber diesmal zur Hausverwaltung. Ja, die Wohnung im achten Stock sei noch frei und er könne sie sofort mieten, müsse sie allerdings selbst renovieren, das sei hier so üblich. Jeder, der neu einziehe, richte sich die Wohnung auf eigene Kosten, dafür müsse er beim Ausziehen nichts mehr veranlassen. Ja, die Wohnung sei möbliert, inklusive Kücheneinrichtung, ja doch, die Kaltmiete verstehe sich mit der Möblierung. Ob noch alles so sei, wie es war, als die beiden Damen, der Angestellte sagte tatsächlich Damen und hatte nicht einmal einen süffisanten Ton, ausgezogen seien. Ob er die Wohnung den kenne? Ja, es sei noch so, die Hausverwaltung habe noch keine Zeit gehabt, sich um die Wohnung zu kümmern. Die Miete war moderat, ja geradezu billig, genau richtig für ihn, der in den nächsten Monaten mit Arbeitslosengeld und dann vielleicht über lange Zeit mit Harz IV auskommen musste. Er unterschrieb den Mietvertrag zunächst für ein Jahr und wenn er die Kaution von zwei Monatsmieten bringen würde, bitte nur in bar, wir haben da leider so unsere Erfahrungen, würde er den Schlüssel erhalten und könne gleich einziehen und wenn er wolle, könne man ihn auch gleich bei der Stadtverwaltung anmelden, hier sei jedenfalls das Formblatt.

Als er seiner Frau sagte, dass er am nächsten Tag ausziehen würde, war sie doch etwas kleinlaut. So schnell? So ernst habe sie es doch gar nicht gemeint und sie sollten noch einmal darüber sprechen. Er war fassungslos über soviel weibliche Logik. Aber nachdem sie zum ersten Mal seit langem wieder vernünftig miteinander geredet hatten, ohne dass all die Emotionen aufkochten und all die Beschuldigungen wieder und wieder präsentiert wurden, kamen sie doch zu dem Schluss, dass es das Beste sei, wenn er erst einmal in diese Wohnung ziehen würde, die er ja ohnehin schon gemietet hatte. Dann könnten sie in Ruhe abwarten und sehen, wie es weiter ginge, in ihrer Beziehung und auch ganz allgemein und vielleicht würden sie ja doch wieder zusammenkommen. Seine Frau war plötzlich wie umgewandelt, fast schon freundlich und konziliant. Er solle das mitnehmen, was er wirklich brauche, den Rest seiner Sachen könne er hier lassen und er könne jederzeit kommen und sich holen, was ihm gehöre. Er könne sogar seinen Hausschlüssel behalten, soviel Vertrauen habe sie zu ihm nach so vielen Jahren Ehe. Dann kam sie, ohne dass er sie gefragt hatte, sogar noch auf ein Thema zu sprechen, das ihn auch interessierte. Sie habe, falls er das noch wissen wolle, keinen Liebhaber, der nur darauf warte, seinen Platz einzunehmen und sie habe auch nicht vor, sich einen zu suchen. Von Männern habe sie erst einmal die Nase voll. Eine Auszeit täte ihr wirklich gut. Nachdem sie das Problem mit ihren Eltern jetzt so einigermaßen im Griff habe, sie waren tatsächlich in einem Heim untergebracht worden, brauche sie Zeit und Ruhe, um nachzudenken und sie wiederholte noch einmal, was sie bereits festgestellt hatte, nach solch einer Auszeit würde man ja besser sehen, wie es weitergehen könnte. Diese letztlich versöhnliche Wendung der Dinge ließ immerhin ein wenig Hoffnung in ihm aufkeimen und die Zukunft, vor der es ihm graute und von der er keine Ahnung hatte, wie er sie bewältigen sollte, war ein klein wenig rosiger. Aber zum reuevollen Kuschen, zum Bitten und Betteln doch hier bleiben zu dürfen, war es noch zu früh.

Das, was er für den Anfang brauchte, war nicht viel. Er packte die paar Sachen in das Auto, das seine Frau ihm großzügig für einen Tag überließ und fuhr zu dem Hochhaus. Er stellte den Wagen ab, ging zur Hausverwaltung, bezahlte die Kaution und erhielt den Schlüssel. Dann fuhr er in den achten Stock. Die Wohnung war fast noch so, wie er sie kannte, mit einem Unterschied, einem großen, sie war aufgeräumt, besser gesagt, sie war weitgehend leer geräumt. All die Klamotten auf dem Fußboden, an der Garderobe, aus dem Bad waren weg, die Umzugskartons und die Schuhe ebenfalls. Im Bad standen keine Tiegel und Fläschchen und Döschen, im Wohnzimmer kein Nippes. Der Kühlschrank war leer und abgeschaltet, die Tür geöffnet. Selbst der Mülleimer war geleert worden. Nur ein Andenken war wohl unbewusst hinterlassen worden, eine leere Tetrapacktüte Orangensaft auf dem Fensterbrett in der Küche. Er wollte kaum glauben, dass das ein Zufall war. Sonst fand er nichts, was auf die beiden Frauen hingewiesen hätte. Sie hatten alles, wirklich alles mitgenommen. Nein, doch nicht alles, denn ein Erinnerungsstück gab es noch, abgesehen von der Couch mit der roten Decke, die zum Mobiliar gehörte, wie auch die Schrankwand, selbstverständlich ohne Fernseher. Es war das scheußliche und doch so sehr mit Erinnerungen belastete Bild über der Couch, das Bild der beiden Afrikanerinnen mit den spitzen Brüsten. Er stellte sich davor und betrachtete es lange und fast wären ihm die Tränen gekommen. Aber dann riss er sich los und wandte sich den praktischen Problemen zu. Es müffelte etwas im Wohnzimmer und er öffnete das Fenster. Der Ausblick vom achten Stock war allein schon die halbe Miete wert. Er hatte diesen Blick immer genossen, wenn er bei Jessi gewesen war und schon damals hatte er bedauert, dass die Wohnung keinen Balkon besaß. Was stand als Nächstes an? Malern, tapezieren, neue Möbel? Nach einigem Hin und Her kam er zu dem Schluss, dass eigentlich kaum etwas verändert werden musste und dass er das auch gar nicht wollte. Die Wohnung sollte bleiben, wie er sie in Erinnerungen hatte. Nur eine gründliche Reinigung, die war sicher nötig. Dann ging er zum Auto, holte seine Sachen und fuhr anschließend in den Supermarkt, den, in dem er Jessi zum ersten Mal begegnet war. Er kaufte Lebensmittel, Toilettenpapier, Müllbeutel, einen Packen Wischtücher, was man eben so braucht in einem Haushalt und je eine Flasche Rioja und Riesling, denselben, wie damals, er musste nicht lange nachdenken.

Langsam gewöhnte er sich an das neue Leben, allein in einer kleinen Wohnung. Er war noch ein paar Mal mit dem Bus zu seinem Haus, seinem früheren Haus, gefahren und hatte sich Dinge geholt, die er brauchte oder die er vermisste. Dabei hatte er es immer so eingerichtet, dass seine Frau in der Schule war und er ihr nicht begegnen musste, legte aber jedes Mal einen Zettel hin, dass er da gewesen war. Mit dem Geld kam er ganz gut hin. Er bekam ja noch sein Gehalt und hatte die Abfindung und natürlich auch noch einiges an Erspartem und dann würde er erst einmal Arbeitslosengeld beziehen. Was dann kam, in fernerer Zukunft, wenn er ein Harz-IV-Fall war, wagte er sich nicht vorzustellen. Zum Leben würde die Unterstützung wohl reichen, aber für viel mehr sicher nicht. Er würde sich einschränken müssen, manche lieben Gewohnheiten aufgeben, ein einfacheres Leben führen. Aber wer weiß, vielleicht kehrte er ja doch eines Tages wieder zu seiner Frau zurück und vielleicht fand er einen neuen Job, immerhin war er ja nicht schlecht gewesen in seinem Beruf und die missliche Lage hatte nicht er verschuldet. Seine Zeit verbrachte er weitgehend mit Nichtstun. Er sah fern, ein kleines, gebrauchtes Fernsehgerät hatte er sich bei e-bay ersteigert, surfte stundenlang mit seinem verhängnisvollen Notebook, las, eher wenig, aß, eher viel, soff, immer mehr. Die Wohnung verließ er nur noch selten, meist nur um einzukaufen, manchmal um spazieren zu gehen, auf Kino und Museen und Park, auf alles, was ihn an sein früheres Leben erinnerte, hatte er einfach keinen Bock. Ernsthafte Anstrengungen, um eine neue Arbeit zu finden, unternahm er nicht. Zur Agentur für Arbeit ging er nur, wenn er dazu ausdrücklich aufgefordert wurde, aber etwas für ihn Passendes war ohnehin nicht in deren Angebot, die Zeiten waren noch zu schlecht.

Auf sexuellem Gebiet darbte er, abgesehen von eher saft- und kraftlosen Selbstbefriedigungen, wenn er auf den Pornoseiten des Internets gelandet war. Er hielt aber nach keiner neuen Beziehung Ausschau, suchte weder in der Zeitung noch im Internet noch im wirklichen Leben. Aber sein Verlangen nach einer Frau war trotzdem noch da und plagte ihn, mal mehr, mal weniger. Um dieses Verlangen zu befriedigen, raffte er sich Wochen nach seinem Einzug auf und ging in den örtlichen Puff. Es war April und die Umstellung auf Sommerzeit bescherte schon die helleren Abende, als er durch die schmale, abgesperrte Straße mit den Schaufenstern ging. Er sah sie schon nach wenigen Metern. Naomi saß in einem der Fenster und auch sie erkannte ihn sofort. Sie hatte sich verändert, leider zu ihren Ungunsten. Ihr Gesicht war irgendwie anders, es lag nicht nur am Make-up, das ihm lieblos aufgemalt vorkam. Sie trug auch keine Rastazöpfchen mehr, sondern eine einfache, kurze Frisur und das bisschen Kleidung, dass sie anhatte, war die typische Arbeitskleidung einer Nutte, weißes Korsett, grobmaschige Strümpfe und High-heels, sonst nichts. Als sie ihn zur Begrüßung breit anlächelte, fiel ihm auf, dass ihr ein Schneidezahn fehlte. Sie schien sich richtig zu freuen, dass er da war, und forderte ihn durch das geöffnete Fenster auf, hereinzukommen. Sie öffnete die Tür, drückte sich an ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange, doch diesmal blieb der elektrische Funke weitgehend aus. Dann führte sie ihn die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie setzten sich beide auf das breite Bett und es war so, wie beim ersten Mal, als sie sich beim Griechen zum Essen getroffen hatten. Sie redete und redete und er hörte zu und hatte kaum Gelegenheit, etwas von sich selbst zu erzählen und dabei hätte er genau das dringend nötig gehabt, zugleich aber wusste er, dass Naomi ohnehin nicht richtig zugehört hätte.
Naomis Leid hatte etwa zu derselben Zeit begonnen, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatte, als sie, entgegen der Abmachung mit Jessi, in der Wohnung geblieben war. Sie war neugierig gewesen auf ihn, auf den Mann, von dem ihre damalige Freundin immer soviel erzählt hatte, der tatsächlich schon so eine Art Ehemann geworden war. Sie lebte damals eigentlich sehr recht sparsam, abgesehen von dem, was sie berufsbedingt in ihr Outfit investieren musste. Sie ging selten aus, abends schon gar nicht, nur am Wochenende suchte sie schon mal ein Café auf. Sie sparte, um sich ihren Lebenstraum, einen eigenen Schönheitssalon, eines Tages erfüllen zu können. Bei solch einem Anlass, ausgerechnet an einem Samstag Nachmittag, als sie für das „alte Ehepaar“ die Wohnung verlassen hatte, lernte sie einen jungen Mann kennen, keinen Kunden, wie sie betonte. Einen jungen Mann, der nicht nur gut aussah, sondern auch charmant und großzügig war. Er hatte sie eine ganze Weile schüchtern gemustert, dann hatte er sie sichtlich verlegen angesprochen, ob er sie zu einem Cappuccino einladen dürfe. Dem Cappuccino folgten noch ein Prosecco, eine Menge höflicher Komplimente und der Austausch der Handynummern. Das war eigentlich auch schon alles, was an diesem Tag geschah. Naomi stockte einen Moment in ihrem Redefluss, nein, das sei leider doch nicht alles gewesen, fuhr sie voll Bitterkeit fort, es sei noch etwas passiert, etwas, das bei ihrem Beruf einfach nicht passieren dürfe. Bei ihr habe es gefunkt, sie habe sich verknallt, sich sofort in diesen unwiderstehlichen Mann verliebt. Es war dann auch sie, die ihn schon am nächsten Tag anrief. Es war sie, die Kunden abbestellte, um sich mit ihm in einer Disco zu treffen und es war sie, die ihn aufforderte, in die Wohnung mitzukommen. Dort gab sie sich ihm hin, auf dem roten Sofa, gratis und mehrmals hintereinander. Jessi war im Schlafzimmer, hörte alles und ahnte Schlimmes. Sie hatte sich gewundert, als ihr Naomi verkündet hatte, sie würde heute ausgehen und sie hatte sich noch mehr gewundert, dass sie zu so später Stunde noch einen Kunden mitgebracht hatte. So etwas war noch nie passiert. Die Kunden kamen nie spontan, sondern immer nach Absprache. Die Termine wurden in einen Kalender, der im Flur lag, eingetragen, die eine Mitbewohnerin musste ja wissen, wann sie ausgehen oder sich ins Schlafzimmer zurück ziehen musste, während die andere arbeitete. An diesem Abend war nichts eingetragen. Jessis Ahnungen wurden bereits am nächsten Tag bestätigt, als ihre Freundin total aufgekratzt von ihrem neuen Glück namens Miro schwärmte und nur noch von ihm redete und redete, so wie es eben ihre Art war.

Miro bete sie an. Er sei schwer in sie verliebt, genauso wie sie in ihn. Als er gesehen hatte, wie klein ihre Wohnung war, habe er vorgeschlagen, dass sie zu ihm ziehen solle, seine Wohnung sei viel größer und er lebe allein. Er habe genug Geld, würde in der Werbebranche arbeiten und habe gute Kontakte zu Modellagenturen. Diese Kontakte würde er gerne nutzen und er sei sich sicher, dass er für sie, also für mich verdeutlichte Naomi, einen Vertrag aushandeln könne. Das Zeug zum Modell habe sie allemal. Ja er habe sogar angedeutet, dass sie vielleicht, vielleicht irgendwann einmal heiraten könnten, natürlich erst, wenn sie sich näher kennengelernt hätten und wenn es auch beide von Herzen wollten. Was Jessi dazu gesagt habe, wollte er wissen. Jessi, die sich ihre Ergüsse immer wieder anhören musste, war sauer und wütend und hatte ihr die Hölle heißgemacht und sie gewarnt, ja keine unüberlegten Dinge zu tun. Einer, der schon beim ersten Mal soviel versprach, sei doch suspekt. Naomi hatte verschnupft reagierte. Jessi gönne ihr nicht, dass sie glücklich werden könne, sie ja nur eifersüchtig und habe Angst, dass sie sich verändern müsse, wenn Naomi heiraten, ausziehen und ihren Beruf aufgeben würde. „Ja, das habe ich wirklich geglaubt. Ich habe die ganze Welt, die ganze Zukunft rosarot gesehen. Aber leider kam alles ganz anders.“

Miro sei für sie genau so wichtig gewesen, wie er für Jessi, nein, viel sogar wichtiger. Sie habe nur noch an ihn gedacht, habe sich mit ihm getroffen und es sei so schön gewesen, schmusen, ficken mit echten Gefühlen, nicht nur den Kunden etwas vormachen, nett ausgehen, angehimmelt werden, ernst genommen werden. Wann würden solche Herrlichkeiten einer wie ihr, einer kleinen Nutte denn schon einmal passieren. Miro sei übrigens auch der Grund gewesen, warum zu ihm damals so schäbig war. Ja, sie wusste genau, was sie ihm angetan hatte. In Wirklichkeit sei sie nicht so kalt, aber sie habe nur an Miro gedacht und er sei deshalb nur eine lästige Sache gewesen. Sie müsse sich heute noch für ihr Verhalten entschuldigen. Leider war der siebte Himmel, in dem sie sich damals befand, schon nach sieben Tagen vorbei. Miro war in Wirklichkeit ein Gauner und ein verdammter Zuhälter, der sich nach allen Regeln der Kunst eingeschleimt, sie dann eingeseift und ausgetrickst hatte. Nachdem er ein paar Mal, auch tagsüber, in der Wohnung gewesen war und sie sich sogar im Schlafzimmer geliebt hatten, dem wirklich intimsten Bereich, in den sonst nie ein Fremder hinein durfte, ließ er ganz plötzlich die Maske fallen und der ekelhafte, brutale Typ, der er in Wirklichkeit war, kam zum Vorschein. Er war nur so lange freundlich gewesen, bis er alles, was er über sie wissen wollte, in Erfahrung gebracht und ihr Vertrauen erschlichen hatte. Dann schlug er zu, im übertragenen und im wörtlichen Sinn. Erst klaute er ihr mühsam verdientes, sauer erspartes Geld. Da sie Banken misstraute, hatte sie es da aufbewahrt, wo man es niemals aufbewahren sollte, im Schlafzimmer, im Kleiderschrank, unter der Unterwäsche. Miro brauchte keine zwei Minuten, um es zu finden und an sich zu nehmen. Dann verkündete er, dass er von jetzt an ihre Geschäfte regeln und sie beschützen würde und ihre Freundin, das kleine Miniarschloch, wie er sie nannte, solle mitmachen oder verschwinden. Als sie aufbegehrte und ihm sagte, dass sie das niemals tun werde, schlug er zu, mit der Faust, brutal mitten ins Gesicht. „Hier“, sie zeigte auf ihre Zahnlücke, „das war eine Folge und hier“, sie deute auf ihre Nase, „die anderen siehst du schon gar nicht mehr, die blauen Flecken im Gesicht und das Veilchen am Auge, ja auch Schwarze können Veilchen haben.“ Jetzt erst ging ihm auf, was sich an Naomis Gesicht verändert hatte. Es war die Nase, die viel platter und gebogener aussah.

Miro hatte sie an diesem verfluchten Tag massiv bedroht und eingeschüchtert. Wenn sie zur Polizei gehe, würde er kommen und sie totschlagen, darauf könne sie sich verlassen. Und wenn sie nicht täte, was er wolle, würde er zur Polizei gehen. Er habe dort Freunde, gute Freunde und bei der Ausländerbehörde ebenfalls, Freunde, die ihn einiges kosten würden, aber notwendig seien. Es sei ein Kinderspiel einen Vorwand zu finden, dass beide schon ein paar Tage später im Flugzeug säßen, zurück in die Heimat, in den Kral, in die Savanne, dort hätten sie keinen, der auch nur einen Cent für ihre Ärsche ausgeben würde. Er gäbe ihr Bedenkzeit, aber wenn er wieder käme, und er käme garantiert wieder, müsse es so laufen, wie er wolle. Beide müssten für ihn arbeiten, ohne Widerrede. Sie erzählte alles Jessi und beide hatten mächtig Angst und sie sei weder zur Polizei noch zu einem Arzt gegangen, obwohl das für ihr Aussehen sehr wichtig gewesen wäre. Miro kam zwar nicht mehr, anscheinend war er mit dem, was er ergattert hatte, zufrieden, dafür kam aber nach ein paar Tagen der Hausverwalter und fragte sie, ob sie sich in der Wohnung prostituieren würden, er habe einen Hinweis, das dem so sei, das sei illegal und wenn es stimme, sei ihr hiermit fristlos gekündigt, das sei alles im Mietvertrag geregelt, sie könne es ja nachlesen. Der Hausverwalter war richtig wütend und schrie sie an. Das Haus sei kein Puff und er tue alles, damit es auch zu keinem würde. Sie stritt natürlich alles ab. Wegen ihres scheußlichen Gesichts hatte sie sowieso alle Termine mit den Kunden abgesagt und vorgegeben, dass sie Urlaub machen würden. Noch ein paar Tage später kam die Polizei. Es sei eine anonyme Anzeige eingegangen, wegen des Betriebs eines illegalen Bordells, ob sie sich mal in der Wohnung umsehen dürften. Zum Glück hatte sie den Terminkalender im Flur und alle verräterischen Utensilien, wie Latex-outfit, Schaftstiefel, Dildos, Peitsche und die große Schachtel mit den Parisern nach dem Besuch der Hausverwaltung gut versteckt und sonst gab es ja nichts, was auf ein Bordell hingewiesen hätte. Die Polizisten, ein Mann und eine Frau mit Pferdeschwanz, hatten auch nichts Verdächtiges gefunden, aber sie wollten noch ihre Papiere sehen, aber die seien ja in Ordnung gewesen. Dann hätten sie nach ihrer Untermieterin, nach Jessi, gefragt. Und weil die nicht da war, hätten sie gesagt, dass sie am nächsten Tag zur Polizei kommen solle. Als sie Jessi am Abend das Geschehene berichtete, habe diese noch mehr Angst bekommen. Ihr Pass und ihr Visum waren zwar in Ordnung, aber die Aufenthaltserlaubnis für die EU, die angeblich aus Malta stammte, war gefälscht. Sie hatte sie in Ghana auf dem Schwarzmarkt erworben. Eigentlich hätte sie als Touristin schon längst wieder zurückreisen müssen und nun fürchtete sie, dass massive Probleme auf sie zukommen würden. Sie beschloss, Hals über Kopf abzureisen, ein Flugticket für den geplanten Weihnachtsurlaub hatte sie ja schon. Sie packte ihre Sachen und fuhr am nächsten Tag in aller Frühe nach Frankfurt zum Flughafen. Seitdem habe sie nichts mehr von ihr gehört und ihre Adresse oder eine Telefonnummer habe sie auch nicht, die alte sei jedenfalls abgemeldet.

Auch Naomi fand damals, dass es besser sei, eine andere Wohnung zu suchen. Sie fürchtete, dass die Wahrheit mit dem illegalen Bordell doch noch herauskommen würde. Schließlich wussten ja einige Hausbewohner, was sich in der Wohnung abspielte und dieser verdammte Miro würde sicher auch noch keine Ruhe geben. Hinzu kam, dass sie hier vorerst nicht mehr weiter arbeiten konnte, dann hätte sie auch keine Einkünfte mehr gehabt und auch niemanden, der für die Hälfte der Miete aufkam. Aber eine bezahlbare Wohnung habe sie nicht gefunden, das sei einfach unmöglich in dieser Stadt, daher sei sie schließlich im Puff gelandet. Aber hier sei alles Scheiße und sie wolle nichts wie raus, wisse aber nicht wohin. Die jungen, hellhäutigen Weiber aus Rumänien und Bulgarien würden ihr fast alle Kunden wegschnappen und sie, die Schwarze, ständig mobben und Streit anfangen. Außerdem würde sie viel weniger verdienen als früher. Die Typen, die hier verkehrten, seien viel mieser und geiziger als ihre Stammkundschaft aus früheren Zeiten. Und ihre Stammkunden kämen nicht hierher, die mieden ein öffentliches Haus, sie würden sich wohl erst wieder sehen lassen, wenn sie irgendwo privat zu erreichen wäre. Sie habe ein paar angerufen, aber immer eine Abfuhr erhalten, auch keine Haus- und Hotelbesuche. Sie habe schon alle ihre schönen Sachen verkauft, den Fernseher, die Gucci-Handtasche, ihr teures Handy und einen Teil ihrer Klamotten. Er hörte sich ihre langatmigen Ausführungen geduldig an und gab ihr sein Taschentuch, als sie auch noch zu heulen anfing. Schließlich hatten sie sogar noch Sex, deswegen war er ja in den Puff gekommen und der war überraschenderweise besser, als damals auf der roten Couch. Aber es wartete ja kein ungeduldiger Liebhaber, der falsche Hoffnungen verbreitete, höchstens einer dieser miesen Kunden, die sie ohnehin verabscheute. Er gab ihr Geld, natürlich nur den Standardtarif. Hätte sie mehr verlangt, für die ganze Zeit, die sie auf ihn eingeredet hatte, hätte er gekontert, sie solle ihm gefälligst das Honorar für einen Seelenklempner bezahlen. Aber Naomi war mit dem, was er ihr gab durchaus zufrieden. Sie bedankte sich, dass er ihr zugehört hatte und er verließ sie mit dem Versprechen, wiederzukommen.

Er ging nach Hause und setzte sich mit einer halb vollen Flasche Whisky auf die rote Couch und dachte nach. Jessi war weg und würde auch wegbleiben, zudem sah er keine Möglichkeit, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Außerdem, wollte er das überhaupt? Was wäre denn aus so einer Beziehung geworden? So groß war seine Liebe zu ihr nun auch nicht gewesen. Sie war doch nur ein kleines Abenteuer mit einem Trend zum Normalen gewesen. Ja, gestand er sich, er habe die Zeit mit ihr genossen und sie auch sehr nett und sympathisch gefunden. Aber so richtig zueinandergepasst hätten sie ja auch nicht, schon rein körperlich nicht und was das Intellektuelle anging, er seufzte. Jessi, die kleine, dumme Nutte aus Afrika und er. Nein, das wäre nie und nimmer gut gegangen. Und was sollte er mit ihren Kindern und dem ganzen afrikanischen Clan anfangen, der noch an ihr hing. Mit Jessi würde er sich viel Ärger und Kosten für ein wenig Trost und Lustgewinn einhandeln. Nein, das Kapitel Jessi war ein für alle Mal erledigt. Sollte er Naomi anbieten, bei ihm einzuziehen und von hier aus ihrem Gewerbe nachzugehen und die Stammkundschaft wieder anzulocken? Finanziell würde das Spiel eventuell aufgehen und er könnte sogar davon profitieren, mehr Geld könnte er allemal gebrauchen. Aber nein, das kam auch nicht infrage. Die Hausverwaltung war gewarnt, sogar die Polizei war aufmerksam geworden. Hier, in dieser Bude, würde so ein Plan auf keinen Fall funktionieren. Außerdem, was für eine Rolle hätte er dann gespielt. Er wäre doch nur das fünfte Rad am Wagen und hätte immer ausgehen und in einer Kneipe warten oder sich ins Schlafzimmer zurückziehen müssen, wenn Naomi ihre Kunden empfing. Naomi eine andere Wohnung zu mieten war zu riskant. Wenn es doch schief ging mit ihrer Stammkundschaft, saß er auf den Schulden und hatte möglicherweise Verpflichtungen am Hals, die er sich noch gar nicht vorstellen konnte und das bei seiner finanziellen Lage und außerdem hatte er keine Ahnung, was auf ihn als Puffwirt zukommen würde. Wie lange, überlegte er dann, war eine Frau, noch dazu eine schwarze, in diesem Metier überhaupt attraktiv, wie lange konnte sie sich halten und gegen die Konkurrenz behaupten? Wohl nicht allzu lange. Außerdem kannte er sie doch gar nicht richtig, jedenfalls viel zu wenig, um mit ihr zusammenleben zu wollen. Sie war attraktiv gewesen und sogar jetzt, in der neuen Situation war er immer noch ein wenig in sie verknallt. Er dachte nach, trank einen Schluck und korrigierte sich. Sie war attraktiv gewesen und er war mal in sie verknallt gewesen. Aber mehr doch nicht. Er trank den letzten Schluck Whisky und schüttelte sich bei der abwegigen Vorstellung: er als Zuhälter für eine Negernutte.

Nachdem er diesen Teil seines Lebens abgehandelt hatte, stand er auf, ging zum Kühlschrank, holte ein neues Bier und wandte sich nun den generellen Fragen zu. Sollte er zurück zu seiner Frau? Der Wunsch nach Scheidung war nicht mehr geäußert worden. Weder von ihr noch gar von ihm, war etwas Konkretes unternommen worden. Zurück in sein altes Leben? Vielleicht später, aber jetzt jedenfalls noch nicht. Die Freiheit, die er hatte, seit er allein lebte, genoss er, sie war ihm viel wert. Er prostete sich zu. Ganz ausschließen wollte er eine Rückkehr in sein altes, vertrautes Leben dennoch nicht. Manchmal, wenn auch sehr selten, vermisste er seine Frau. Schon etwas mehr fehlten ihm ihre gemeinsamen, sonntäglichen Restaurantbesuche oder die Versuche, eigene Dreisternemenüs zu kochen. Am meisten vermisste er das Haus, in dem er sich wohl gefühlt hatte und den Garten, den er zwar meistens nur zur Kenntnis genommen hatte und auch die vielen kleinen Gewohnheiten, denen er, aus welchen Gründen auch immer, nun nicht mehr nach ging. Auch die Hoffnung in seinen Job zurück zu kehren, hatte er noch nicht aufgegeben. In der Firma hatte sich zwar nichts zum Besseren gewendet, die paar Leute, die er angerufen hatte, klagten über viel Stress und ein schlechtes Arbeitsklima, aber der Verdienst und die vielen Extraprämien wären ein ausreichender Trost. Zumindest gab es die Firma immer noch und es gab auch Arbeit und daher rührte seine Hoffnung, vielleicht eines Tages sein immer noch ruhendes Projekt, er hatte nachgefragt, wieder aufnehmen zu können. Zudem kündigte sich in den Medien eine leichte Verbesserung der Konjunktur an. Vielleicht brauchte man einen Spezialisten wie ihn auch an anderer Stelle. Einen mit seiner Erfahrung, einen der auf seinem Gebiet sehr gut und sehr kompetent gewesen war. Das hatte man ihm doch immer wieder bescheinigt und ihm für seine Leistung damals ein ordentliches Gehalt und auch ordentliche Prämien bezahlt. Wenn dieser Scheiß Konjunktureinbruch nicht gekommen wäre, hätte er all diese Scheißprobleme nicht, davon war er fest überzeugt. Er nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche. Mit Mitte fünfzig konnte er doch noch nicht zu alt für den Arbeitsmarkt sein. Man hörte doch immer wieder, dass Firmen ihre alten Mitarbeiter reaktivierten, weil kein Nachwuchs zu bekommen war oder weil sie von deren Erfahrungen profitierten. In solchen Momenten der Einsicht und des Nachdenkens nahm er sich vor, gleich am nächsten Tag ernsthaft nach einem Job Ausschau zu halten. Nach einer weiteren Flasche Bier war es nicht nur ein beliebiger Job, den er suchen würde, sondern eine qualifizierte Anstellung, eine leitende Position. Er war doch gut, mit seinem Fachwissen, mit seiner jahrelangen Berufserfahrung, mit seiner Menschenkenntnis und seinem hervorragenden Führungsverhalten. Da sollte ihm erst mal einer das Wasser reichen. Er war doch ein ausgesprochenes Alphatier und bereit, Verantwortung zu übernehmen, sofort, jederzeit, für alles. Er rülpste und setzte die Flasche wieder an. Sie war leer. Laut schnaufend wuchtete er sich von dem roten Sofa hoch, ging erst pissen und dann leicht schwankend zum Kühlschrank.

Eine Sache war jedenfalls positiv ausgegangen. Er kicherte und murmelte mehrfach „positiv, HIV positiv“. Nein, HIV positiv war er nicht, kein AIDS. Das war sicher. Die weiteren Tests waren eindeutig negativ gewesen und der Tripper war auch auskuriert, die Antibiotika abgesetzt. Sein Sexleben war nicht mehr beeinträchtigt, seine Libido war erhalten geblieben. Das hatte das Zusammentreffen mit Naomi bewiesen. Nur, mit wem wollte er eigentlich Sex? Jetzt war er wieder dort, wo er mit Nachdenken angefangen hatte. Weiber! Das Problem mit wem, war einfach noch nicht gelöst. Seine Frau, o Gott, nein! Naomi? Sie war vermutlich auf Dauer zu teuer und außerdem war er sich nicht sicher, ob er mit ihr klarkam. Diesmal war sie ja viel netter gewesen und er hatte den Eindruck gehabt, dass sie richtig froh war, ihn zu sehen, aber an das erste Mal mit ihr erinnerte es sich nur mit Grausen. Dennoch blieb Naomi eine Option, seine letzte Hoffnung. Aber warum machte er sich überhaupt in dieser Richtung Sorgen? Dazu gab es doch gar keinen Grund. Er war doch noch was, stellte doch noch etwas dar. War er nicht immer noch attraktiv und die Welt voll mit jungen, geilen Weibern, die nur auf einen wie ihn warteten? Die Flasche war schon wieder leer. Er ließ sie auf den Fußboden fallen und sich nach hinten, auf das rote Sofa und schloss die Augen. Aber wollten diese jungen, geilen Weiber einen, der demnächst Harz-IV Empfänger sein würde und dazu noch auf dem besten Weg, Alkoholiker zu werden? Sein Optimismus verebbte, die übliche Depression setzte wieder ein, nur ein Gedanke hielt ihn noch bei Laune, bevor er einduselte, der Gedanke an Jessi, an die liebe, kleine, süße, verständnisvolle Jessi, die in ihrem fernen Afrika sicher froh wäre, wenn er zu ihr käme und die, davon war er fest überzeugt, auch noch an ihn denken würde.

Er suchte jetzt Naomi regelmäßig auf, aus alter Gewohnheit an den Samstagnachmittagen. Da war im Puff wenig los und sie blieben lange zusammen. Er brachte Prosecco mit und Chips und Naomi heulte sich aus und dann vögelten sie und er war meist mit sich und auch mit ihr zufrieden, denn sie strengt sich wirklich an und er war überzeugt, dass sie ihm nicht nur etwas vorgaukele, wenn sie stöhnte und beim Höhepunkt sich an ihn krallte und mit ihren Beinen zuckte und ihm ihren Unterleib entgegenstreckte und ihn anflehte, weiterzumachen, nicht aufzuhören. „Fuck me. Oh my god, fuck me. Go on my dear, fuck me“, stöhnte sie, vergaß aber auch in solchen Momenten ihre alte Regeln nicht und küsste ihn nicht auf den Mund, obwohl er sie mehrfach darum bat. Aber ihr Atem vereinte sich und sie erreichten tatsächlich oft zusammen den ersehnten Höhepunkt, den Orgasmus, nach dem er sich immer gesehnt und den er selten bekommen hatte und Naomi schien es ebenso zu gehen. Er hätte dieses Leben noch länger ausgehalten. Sie dagegen nicht, sie wollte weg von hier, und als sie hörte, dass er inzwischen ihre alte Wohnung gemietet hatte, bestürmte sie ihn mit der Bitte, bei ihm einzuziehen. Sie malte die Zukunft in den schönsten Farben aus, versprach ihm das Blaue vom Himmel, zählte ihre Stammkunden auf, die jederzeit wieder zu ihr kommen würden, rechnete ihm vor, was sie verdienen könnte und was sie ihm als Miete geben würde. Seine Einwände, dass man im Hochhaus nur illegal arbeiten könne und dass sie ja rausgeschmissen worden war, tat sie erst als unwichtig ab, meinte aber nach kurzem Nachdenken, dass es wohl doch besser wäre, eine andere Wohnung zu mieten. Sie lebte sichtlich auf und er hörte sich ihre Pläne und Vorschläge an, ließ sie aber über seine eigenen im Unklaren. Nur einer Sache stimmte er zu, als sie ihn inständig bat, ihn in der Wohnung, ihrer Wohnung, wie sie sagte, einmal, wenigstens einmal besuchen zu dürfen.

Als sie die Wohnung betrat und ihre Vergangenheit wieder vor sich sah, besonders beim Anblick des Bildes mit den Negerweibern, wie er es immer genannt hatte und das er aus Sentimentalität hatte hängen lassen, heulte sie wieder los. Dieses Bild, dachte er, dieses Scheißbild bewirkt mehr, als man glauben sollte und bot ihr als Trost ein Bier an. Er hatte nur noch proletarisches Bier und Korn in der Wohnung, der snobistische Wein war ihm zu teuer geworden. Sie lehnte ab und er machte deshalb nur eine Flasche auf und trank sie fast auf einen Zug aus. Dann saßen sie wieder nebeneinander, diesmal auf dem roten Sofa, so wie damals, als ihre Welten noch in Ordnung waren. Sie hatte sich beruhigt und fing wieder damit an, ihm Vorschläge zu machen, wie schön und wie vorteilhaft es für sie beide sein könnte, wenn sie hier wieder einzöge. Nein, nicht um hier zu arbeiten, das gehe wohl nicht, das sei ihr jetzt auch klar, sondern nur um hier zu wohnen. Sie könnte ja ihrem Beruf im Puff nachgehen, wenn sie mit ihm zusammen wäre, dann wäre für sie alles einfacher. Sie würde sich mehr anstrengen, mehr Geld verdienen und ihm die halbe Miete oder, wenn er wolle, auch mehr geben. Er brauche keine Angst zu haben, dass sie ihm auf der Tasche liegen würde. Wenn sie sich anstrenge, würde sie genug verdienen und würde auch das Mobbing besser ertragen. Sie könnte auch Anzeigen für Hausbesuche aufgeben und vielleicht Telefonsex machen oder sich für Pornos fotografieren lassen. Das würde sie alles für sich, nein für ihn, für sie beide machen und das würde garantiert klappen, er müsse sie nur aus dieser bescheuerten Lage befreien.

Als sie merkte, dass bitten und betteln nichts half, fing sie an, ihn zu umschmeicheln, ihn zu umgarnen, sanft und gurrend auf ihn einzureden, wie nett er sei, wie attraktiv und dynamisch, ein richtiger Mann. Ja, ein Mann, den sie sich immer schon gewünscht hätte und den sie jetzt bräuchte, jetzt und hier. Keinen Kunden sondern einen richtigen Mann für das Leben. Sie streichelte seine Arme und dann, tatsächlich, er konnte es kaum fassen, kam sie mit ihrem Kopf dicht an seinen und küsste ihn. Sie küsste ihn richtig, wie es Verliebte machen, erst sanft auf die Lippen, dann saugte sie leicht an ihnen, dann zwängte sich ihre Zunge in seinen Mund. Dort drehte und wendete sie sich, fuhr rein und raus, rauf und runter. Naomi schnaufte und schmatzte dabei und schluckte Speichel, der sich in ihren Mündern verteilte, und saugte immer stärker und nahm sogar den intensiven Biergeschmack willig hin, obwohl sie den eigentlich gar nicht mochte. Er war ganz benommen von dieser neuen Erfahrung und mischte bei dem Spiel der Zungen eifrig mit. Es war Jahre, wenn nicht Jahrzehnte her, dass er so leidenschaftlich, so intensiv, so feucht, so erotisch geküsst worden war. Er musste an Jessi danken und an ihren Spruch „Kusse auf Mund, nicht gut.“. Was für ein Quatsch.

Nachdem sie sich ausgiebig geküsst hatten, stand Naomi auf und zog ganz selbstverständlich ihre Bluse aus, öffnete den Reißverschluss ihrer Jeans und streifte sie mit einiger Mühe über die prallen Hüften nach unten. Dann dreht sie ihm den Rücken zu und führte erneut das Arschgewackel vor, das ihn seinerzeit so aufgeregt hatte. Diesmal war sie aber voll bei der Sache, voll auf ihn konzentriert und der Bauchtanz dauerte viel, viel länger. Schließlich war sie etwas außer Atem und setzte sich neben ihn. Erst schmiegte sie sich an ihn, dann zog sie ihm das Hemd über den Kopf und die Hose mitsamt der Unterhose aus. Erst dann legte sie ihren BH ab und schlüpfte aus dem Tanga und legte sich mal neben ihn, dann auf ihn und begann ihn zu streicheln und zu umklammern und wieder und wieder zu küssen und seinen Schwanz zu lutschen und bot ihm ihre Muschi zum lecken an. Aber er lag ziemlich steif und regungslos da und ließ alles mit sich geschehen, alles was sie tat, tat aber selbst so gut wie gar nichts. Sie war so weggetreten, so intensiv mit seinem Körper beschäftigt, dass er sie darauf aufmerksam machen musste, doch bitte erst mal einen Gummi zu holen, als sie ihn fragte, ob er sie jetzt ficken wolle. Sie arbeitete diesmal wirklich gut und gefühlvoll und einfallsreich und hatte sich auch voll auf ihn konzentriert, aber trotzdem reagierte er kaum, war kaum erregt, nur gerade so, dass sein Glied schön straff war, weil auch jetzt wieder, selbst in dieser Situation, seine Gedanken bei Jessi waren. Er dachte, hier in dieser Wohnung, auf diesem Sofa, kann es mit Naomi einfach nicht klappen. Aber schließlich klappte es dann doch. Naomi hatte nicht locker gelassen, nicht aufgehört, ihn zu bearbeiten und sich nicht enttäuscht von ihm abgewendet. Nach dem sie fertig waren, in jeder Hinsicht, lächelte sie ihn verschwitzt an und wollte wissen, ob sie gut gewesen sei. Er nickte und bat sie, noch ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

Er wachte auf, weil sein Handy klingelte. Draußen war es noch dunkel. Er lag nackt auf dem Sofa, neben ihm lag Naomi und schnarchte. Es war nicht bei dem einen Bier geblieben und auch Naomi hatte sich überwunden und eifrig mitgetrunken. Sie hatten im Liegen getrunken, was gar nicht so einfach war. Von Zeit zu Zeit war einer aufgestanden und hatte Nachschub geholt oder war auf die Toilette gegangen. Am Anfang redeten sie noch, sogar er bekam die Gelegenheit über sich und seine Probleme zu reden und Naomi hörte sogar zu, aber dann wurde das Reden immer diffuser und beschwerlicher und Naomi war schließlich doch eingeschlafen, während er immer noch von seinen großen Plänen schwafelte. Er hatte sich dann aufgerichtet, sich neben sie gesetzt und sie betrachtet, wie sie da lag, auf der Seite, einen Arm abgewinkelt, den Kopf auf der Armbeuge, den anderen Arm auf ihrer mächtigen Hüfte. Die Hand war immer noch eine breite Patschhand, allerdings mit kurzen Nägeln, von denen der rote Nagellack zum Teil abgeblättert war. Sie trug auch keine Ringe mehr, alles, aber auch alles Überflüssige hatte sie verkauft. Ihr Körper war kompakter als er ihn in Erinnerung hatte, aufgedunsener, ja sie war fast schon dick. Die Brüste hingen groß und schwer herab, die Taille war nur ein sehr sanftes Tal, der Hintern ausladender denn je, der Bauch richtig fett, die Beine, besonders die Oberschenkel, stämmig, die Füße plump und breit. Ihr Gesicht, das ihn anfangs fasziniert hatte, war nicht mehr hübsch, seit die Nase gebrochen und nicht korrigiert worden war. Die Lippen schienen ihm jetzt auch viel wulstiger zu sein und die Lücke in der oberen Reihe der Vorderzähne trug nicht dazu bei, den Anblick zu verschönern. Selbst die kleinen Diamanten waren nicht mehr an ihrem Platz. Sie hatte den Mund halb auf und zog röchelnd die Luft ein und stieß sie prustend wieder aus und verbreitete jedes Mal einen neuen Hauch Bierdunst. Er konnte in ihren offenen Mund blicken und sah, dass nicht nur ein Schneidezahn fehlte, sondern auch zwei Backenzähne. Es war ihm unbegreiflich, wie er sich vor ein paar Monaten in diese Frau hatte so vergucken können.
Das Handy hatte aufgehört zu klingeln. Er hatte keine Lust gehabt, aufzustehen und es zu suchen. Wer sollte ihn auch schon so früh am Morgen anrufen. Er legte sich wieder neben Naomi, eine Hand auf ihrem Hintern, konnte aber nicht mehr einschlafen. Dann merkte er, dass er dringend aufs Klo musste. Notgedrungen stand er doch auf, und nachdem er gepinkelt hatte, zog er sein Handy aus der Tasche der Hose, die auf dem Boden lag. Er drückte auf die Sprachbox. „It is me, Jessica, I am at the airport in Frankfurt. Please come.“

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