Nymphenküsse

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Nymphenküsse

Nymphenküsse

Fräulein November

Im nächsten Moment entdeckt Lilly, was die Ursache des Plätscherns ist. Oder besser, wer. Am Rand des Seerosenfeldes ist ein Kopf aufgetaucht, bis zur Nasenspitze nur, doch die großen grauen Augen sind unverwandt auf Lilly gerichtet. Diese hat sich im Schreck halb aufgerichtet, doch als sie erkennt, dass es sich um ein junges Mädchen handeln muss, entspannt sie sich – zumindest ein wenig, denn das Herz klopft doch recht rasch in ihrer Brust. Zögernd hebt sie die Hand zum Gruße, doch da verschwindet der Kopf schon wieder im Wasser. Nur um kurze Zeit später ein gutes Stück näher wiederaufzutauchen, diesmal sogar bis zu den vollen blassen Lippen. Nun kann Lilly die Fremde bereits besser erkennen: ihre Haut ist blass wie Elfenbein, als wäre sie noch nie an die Sonne gekommen, ihre Haare hingegen sind dunkel und voll, lose treiben sie auf der Wasseroberfläche. Zwischen den Strähnen glitzern Silber und weiß, dünne Kettchen und Perlen, die scheinbar in die vielfach verflochtenen Haare eingewebt sind. Auch Nase und Ohren der Fremden sind mit einer Unzahl von Kettchen und Ringen geschmückt. Lilly hat derartiges noch niemals gesehen und vergisst über ihr Staunen für einen Moment die Furcht, die immer noch in ihr rumort. Die Fremde blinzelt unter langen, dunklen Wimpern, Wassertropfen rinnen aus ihrem Haar über ihr Gesicht. Sie sieht jung aus, vielleicht sogar jünger als Lilly, und scheint ebenfalls zwischen Neugier und Furcht gefangen zu sein. Doch plötzlich löst sie sich aus ihrer Reglosigkeit, mit einer eleganten Bewegung unter der Wasseroberfläche schwimmt sie näher, ertastet den Grund und richtet sich auf, nun kaum mehr eine Armlänge von der furchtsam erstarrten Lilly entfernt. Das Mädchen aus dem See kniet nun im seichten Wasser dicht am Ufer und Kaskaden von Tropfen rinnen über ihren Körper. Sie trägt ein weißes Kleid, dass so zart und dünn ist, dass es zum einen kaum die Schultern und nur grade so die vollen Brüste bedeckt und zum anderen nass und fast durchsichtig an ihrem zierlichen Körper klebt. Doch Lillys Blick wird weiterhin staunend von all dem Schmuck angezogen, denn auch an Hals, Hand- und Fußgelenken trägt die Fremde unzählige Silberkettchen und Perlen. Obwohl sie ganz still dasitzt klirren und funkeln die Ketten unter den Bewegungen des Wassers um sie herum. Das dunkle Haar fällt ihr beinahe bis auf die Hüften herab. Und der Blick ihrer mandelförmigen Augen ist unverwandt auf Lilly gerichtet. In dieser steigt nun, da sie das fremde Mädchen plötzlich in seiner ganzen, fremdartigen Schönheit vor sich hat, der Verdacht auf, dass solch ein Wesen kaum menschlich sein kann. Eine Nymphe. Ihr Herz pocht wieder schneller. Sie hatte von diesen Fabelwesen gehört, in unzähligen Geschichten und Sagen, doch sie kannte niemanden, der einmal wahrhaftig einer von ihnen begegnet war.

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