Es begab sich einst, zu der Zeit, in der Winter noch richtige Winter, Frauen noch richtige Frauen und Männer noch richtige Männer waren, dass König Alfons von Supratolien ein Töchterchen geboren wurde. König Alfons befand sich bereits in fortgeschrittenem Alter, hatte aber mit seinen 70 Jahren eine blutjunge Frau geehelicht und seine Pflicht an ihr mit Freuden erfüllt. Noch vor der Hochzeit hatte sich Rosinas Bauch appetitlich gerundet, und ihre Brüste hatten die Form von grossen, schweren Schneebällen gewonnen. Rosina verhüllte ihren Körper schamhaft mit edlen Tüchern – aber dennoch ging die Kunde, dass sie schwanger war, wie ein Lauffeuer durchs Städtchen.
Kaum erblickte Anastasia das Licht der Welt, war sie auch schon bildhübsch. Mit reinem, weissem Gesichtchen, hauchzarter Haut und einem schwarzen Wuschelkopf lag sie da, zwischen den Beinen ihrer erschöpften Mutter, in ein Laken eingewickelt, und harrte des Lebens, das ihr bevorstand.
Anastasias Vater mochte die Rührungstränen nicht verbergen, und er war es, der mit zittrigen Fingern Schere und Pinzette ergriff, die Nabelschnur durchtrennte und die Kleine an den Prachtsbusen seiner geliebten Rosina legte.
Anastasia gedieh wunderbar und war bereits mit zwei Jahren so schön, dass den Vögeln der Gesang im Schnabel stecken blieb, die Köche vor Aufregung die Töpfe fallen liessen und die farbigsten Blumen im Schlosspark noch farbiger wurden. Dunkle Locken umrahmten Anastasias Gesicht, und manch ein Hofmaler hätte sein Leben darum gegeben, die Kleine auf Leinwand verewigen zu dürfen. Allein, der König verhinderte dies. Er strebte etwas an, woran bis zu jenem Zeitpunkt alle Väter gescheitert waren: Bereits in Anastasias Kindheit wollte er die Verderbtheit der Welt von seiner Tochter abhalten, und je älter sie wurde, desto akribischer lenkte er die vergifteten Pfeile von Leidenschaft und Begierde an ihr vorbei. Anastasia sollte so rein bleiben wie ein Edelweiss in den fernen Alpen, nichts sollte ihr Leben trüben, alle Wünsche sollten ihr von den Augen abgelesen und von den sie umgebenden Ammen umgesetzt werden, bis, ja, bis dann eines Tages ein Prinz aus einem der umliegenden Königreiche um sie werben würde.
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