Sie schlüpfte in ihr helles Sommerkleid, das crèmefarbene mit den Kornblumen, suchte sich ein paar Sandaletten aus, richtete ihren Pferdeschwanz, sprühte sich ein wenig „l'air du temps“ in die Halsbeuge und war bereit für Jorge.
Schon im Korridor atmete sie den Brotduft ein, der aus Jorges Wohnung drang, und gegen ihren Willen schlug ihr Herz bis zum Hals. „Krieg Dich ein, Karin“, sagte sie zu sich. „Es ist ja nur ein nachbarlicher Besuch, bei einem Mann zwar, aber der ist ja schon ziemlich alt. Zudem hast Du doch Tom, und Tom ist nicht nur warmherzig, klug und attraktiv, sondern er hat Dich auch in die Freuden der Liebe zwischen Mann und Frau eingeführt. Also, Karin krieg Dich ein“. Mit diesen Gedanken im Kopf klingelte sie. Jorge trug einen marineblauen Hausanzug, auf dessen Oberteil ein Prisma prangte. „Dark Side of the Moon“. Karin war kein Kind von schlechten Eltern, wenn es um Musik ging – und ihr Vater hatte ihr bereits, als sie noch ein kleines Mädchen war, beigebracht, dass es himmelweite Unterschiede gibt zwischen Pink Floyd, Fleetwood Mac, David Bowie und, sagen wir mal, Julio Iglesias. „Das duftet ja herrlich bei Dir“, sagte Karin und tat einen weiteren tiefen Atemzug. „Roggenbrot, meine Spezialität“, lachte Jorge. Viel kann ich nicht, wirklich nicht. Ich kann Ofengemüse, Rührei, Risotto und Spaghetti Pesto. Und Nudelsuppe. Heute Abend gibt's im Hotel Jorge Roggenbrot, Nudelsuppe und Rosé. „Darf ich meine Sandaletten ausziehen?“, fragte Karin ihren Gastgeber. „Ich mag es, mit nackten Füssen auf diesem Granitboden, weisst Du?“. In der Tat hatte der Vermieter bei der letzten Wohnbausanierung die Linoleumböden mit Granit ersetzt – und die Mietwohnungen auf diese Weise in eine ganz andere Wohnklasse katapultiert. Die einfache Massnahme half, die Wohnungen in der 15 hochwertiger und wesentlich attraktiver aussehen zu lassen.
Roggenbrot, Nudelsuppe und nackte Füsse
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