Es gab nichts, das Frank Holtmann sehnsüchtiger erwartete als seine bevorstehende Pensionierung. Mit bald 62 Jahren hatte er das sichere Gefühl, dass dies eine verständliche Gefühlsregung war. Jahrzehntelang hatte er sich mit mehr oder wenig begabten Schülern herum geschlagen. Nach einem langen und anstrengenden Studium verschlug es ihn an die Friedrich-Ebert-Realschule. Hier unterrichtete er in den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde, bereitete seine Schützlinge auf die Mittlere Reife vor. Nun lag nur noch ein Jahr vor ihm, dann durfte er sich endlich in den Vorruhestand verabschieden. Frank nahm sich vor, dass er sein letztes Jahr ohne viel Stress herum bringen wollte. Das hatte er sich schließlich verdient. Es sollte anders kommen!
Tatjana hieß sie, diese eigenwillige 18-jährige. Ihre schulische Laufbahn verlief eher bescheiden, zweimal musste sie eine Klasse wiederholen. Sie stand kurz vor dem Rausschmiss, kriegte aber immer im letzten Moment noch die Kurve. Nun war sie die Älteste in der Zehnten, deren Klassenlehrer Frank Holtmann war. Er sah schwarz für ihren erfolgreichen Abschluss, denn sie stand in zwei Kernfächern auf der Note fünf. Für ihre mathematische Schwäche hatte Frank vollstes Verständnis, da er selbst mit diesem Fach auf Kriegsfuß stand. Dass sie aber ebenso in Deutsch schwächelte – dieser Umstand ärgerte ihn. Tatjana, oder Tati, wie sie von ihren Freundinnen genannt wurde, hatte keinerlei Ehrgeiz, daran etwas zu ändern. Zumindest machte sie nicht den Eindruck. Es war Anfang April. In wenigen Monaten standen die Prüfungen an. So langsam wurde es eng für Tati. Der alternde Lehrer mochte das Mädchen. Er wollte ihr helfen. Frank Holtmann zitierte sie zu sich.
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