...„Übrigens, bevor ich es vergesse“, unterbrach sich der Wolf mitten im Sprung. ...„Wo ist der Schlüssel zu Rotkerbchens Kammer?“
„Den bekommst du nur über meine Leiche!“ ...jammerte die Alte, ...und verbarg hastig das Kettchen, dass um ihren faltigen Greisenhals hing.
„Das kommt ja wie aufs Stichwort. Nichts lieber als das“, lachte da der Böse Wolf spitzbübisch, sperrte den reißzahnigen Rachen auf,...
...und schon war es um das garstige Großmütterchen geschehen.
Auch die Enkelin wusste genau, wie man sich in solchen Fällen zu verhalten hatte:
...„Aber Großmutter, was hast du denn für eine lange Zunge?“ ...gurrte Rotkerbchen selig lächelnd, als es mit ausgebreiteten Beinen auf dem weichen Federbett der Alten kniete. Und diese langen, schlanken Stelzen waren wirklich eine Augenweide; selbst für einen „Bösen Wolf.“
...„Damit ich dich besser schlecken kann“, ...lachte der Wolf (überhaupt nicht böse), und ließ auch schon den langen Lecker wedeln. Rotkerbchen quiekte vor Vergnügen...
Wer an dieser Stelle ein Wunder erwartet, soll einstweilen enttäuscht werden. In dieser Nacht verwandelte sich der „Böse Wolf“ nicht in einen jungen, schönen Prinzen, was vielleicht an den allzu unkeuschen Küssen lag. Aber das hätte Rotkerbchen wahrscheinlich auch ziemlich langweilig gefunden. Sie liebte ihren Befreier nämlich genau so rau und haarig, wie ihn die Natur geschaffen hatte. Nicht auszudenken, wie sehr sie diese animalische Zunge vermisst hätte...
Im Morgengrauen jedenfalls, flohen sie gemeinsam, und ohne übertriebene Hast, in den tiefen, dunklen Märchenwald, wo sie noch viel Spaß miteinander hatten...
...Rotkerbchens Namenspatin wurde immer feuriger davon. Und der „Böse Wolf“ hatte bald weiße Strähnen im zottigen Fell. Nach drei glücklichen Jahren, starb er schließlich an völliger Erschöpfung. Aber er lächelte zufrieden, ...und ging ohne Reue.
Als er wie schlafend im Grabe lag, erinnerte er tatsächlich an einen ruhenden Prinzen. Und unserer Heldin war, als stiege ein schöner Mann (mit Krone auf dem Haupt) die Wolkenleiter zu den Ahnen empor...
‚Hatte er ihr also doch kein Märchen erzählt.‘
Traurig raffte Rotkerbchen ihre Kleider zusammen und verließ die Höhle, die so lange ihr Zuhause gewesen war. Sie war zu jung, um das Leben einer einsamen Einsiedlerin zu führen.
Ins heimatliche Dorf, wollte sie aber keinesfalls zurückkehren. So wandte sie sich den Tiefen des Waldes zu. Einem Wald, von dem man sich so viel Wunderliches erzählte. Bald schon, sollte die Trauer von ihr abfallen. Denn hier gab es wirklich viele Abenteuer zu bestehen...
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