Geweckt wurden wir durch eine Lautsprecherdurchsage: Die Hauptmahlzeit wurde angekündigt. Wir hatten Zeit, uns aus der Decke heraus und wieder in unsere Kleider zu arbeiten und zur Toilette zu gehen; die Große ließ uns zuvorkommend durch, in ihren Augen lag keine Angst mehr, sondern ein freundlicher Schimmer. Wir kamen zurück, setzten uns aufrecht hin und senkten die Esstischchen auf die Knie herunter. Noch immer war kein Wort zwischen uns gefallen, aber wir tauschten Blicke. Ihre waren lieb, dankbar und überrascht.
Dann aßen und tranken wir. Ganz entgegen meiner Gewohnheit nahm ich Rotwein, mir war ums Feiern. Sie auch. War das üblich? Ich beschloss zu reden und versuchte es mit Deutsch.
„Ist das üblich?“ fragte ich und zeigte auf ihren Wein.
„Nein“, sagte sie, und ihre warme, dunkle Stimme gefiel mir sogleich. „Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.“
„Genau“, sagte ich und hob den Plastikbecher. „Zum Wohl.“
„Zum Wohl.“
Wir aßen schweigend, tauschten aber weiter Blicke aus. Dann wurden die Essschalen abgeräumt, und wir lehnten uns zurück.
„Wohl, genau. Ich bin wohl wie noch nie“, sagte ich leise, „noch niemals.“
Ein sehr, sehr langes Hmmm kam von links. Es klang voll, mit allen Tönen aufs Mal wie ein Chor beim Einsingen. Oder eher beim harmonischen Schlussakkord aus tausend zustimmenden Stimmen, erst anschwellend aufwärts, dann hangabwärts perlend zum breit fließenden Fluss. Ich wollte in diesem Fluss schwimmen bis an die Mündung des unbekannten Ozeans.
Sie drehte sich zu mir und schaute mir in die Augen. „So bin ich nicht immer. Keine Ahnung, was mir geschah. Das muss sofort aufhören. Ich bin auf Geschäftsreise.“ Sagte sie, nahm meinen Kopf in beide Hände und küsste mich auf den Mund. Ließ mich wieder los, aber langsam.
„Aufhören, sofort, genau“, erwiderte ich. „Ich bin unterwegs in ein eigenes Leben. Studium, und dann seh ich weiter.“
Nahm meinerseits ihren Kopf in meine Hände und erwiderte den Kuss. Wir waren uns vollkommen einig. Wir setzten uns aufrecht hin und schnallten uns an, denn der Captain hatte Turbulenzen angekündigt. Wenn der wüsste, welche Turbulenzen schon hinter uns lagen. Und weitere vor uns, ohne Zweifel.
Roter Wein auf Lava
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