Gedankenlos streifen seine Augen die Wände mit den Regalen, wo Schachteln mit Tabletten, Fläschchen und Tiegel aneinandergereiht sind. Sein Blick verfängt sich an einer gesprungenen Fliese, in der sich ein weißer Tiegel spiegelt. Jetzt fällt ihm auf, dass die ganze Wand mit Spiegeln bedeckt ist. Das lässt den Raum größer erscheinen. Der Gong geht erneut. Hinter Stefano hat sich eine Schlange gebildet. „Bitte gedulden Sie sich!“, beruhigt der Mann die Wartenden. Ein Baby weint auf dem Arm seiner Mutter. Der Apotheker trippelt in Richtung Hinterzimmer.
„Miriam!“, hallt seine Stimme durch ein Labyrinth aus Schränken und Regalen, „Wir haben Kundschaft!“
Ein helles „Sie wünschen bitte?“ reißt Stefano aus seinen Gedanken. Seine Augen wenden sich von den Regalen ab. Ihre Blicke treffen sich. Er ist versteinert. Vor ihm steht eine schmale, blonde Frau. Der weiße Kittel, der bis zum Kragen geschlossen ist, lässt ihren blassen Teint noch heller erscheinen. Die feinen Haare fallen auf ihre Schultern herab. „Sie wünschen bitte?“, wiederholt die Stimme sanft. Stotternd bringt Stefano sein Anliegen hervor. In Miriams Augen blitzt für Sekunden ein Schimmern des Erkennens auf. Dann wendet sie sich ab und holt seine Medizin. Das weiße Leinen ihres Kittels reicht über ihre Knie. Unter dem weiten Schnitt sind die Konturen ihres Körpers nicht zu erkennen. Aber Miriam kann seinen Blick auf ihrem Po fühlen. Sie kehrt zurück und baut die Schachteln vor ihm auf. Als sie ihm das Wechselgeld gibt, berühren sich ihre Hände. Für einen Moment hält er ihre Finger in seinen. Dann wendet er sich eilig ab. Hinter ihm geht der Gong.
Eine Insel im Meer. Inzwischen hat die Nacht ihr Tuch über das Land gedeckt. Stefano und Kristina lauschen vom Balkon dem Rauschen des Meeres. Drinnen schläft die Tochter. Miriam aber läuft, ihre schmale Silhouette haltsuchend an die Häuserwände geduckt, durch die dunklen Gassen der Stadt. Hinter ihr fühlt sie sich nähernde Schritte.
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