Die schweigsame Frau

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Die schweigsame Frau

Die schweigsame Frau

Yupag Chinasky

Aber sie schaut so abweisend drein, so völlig desinteressiert an einer Kontaktaufnahme, dass er schon aufgeben und sich eine andere für diese Nacht suchen will. Schließlich fällt ihm der alte Kellnertrick ein. Er winkt die Bedienung zu sich und trägt ihr auf, der Frau dort drüben, ja die, die allein an dem Tisch direkt neben der Straße sitzt, ein Getränk zu bringen. Die Bedienung geht hin, spricht sie an, deutet in seine Richtung. Die Unnahbare schaut kurz zu ihm herüber, ein kaum wahrnehmbares Lächeln huscht über das Gesicht, ein leichtes Nicken, dann wendet sich wieder der Straße zu. Er ärgert sich, dass sie nicht deutlicher reagiert hat, dass sie nicht dankbarer ist, aber je ablehnender sie sich gibt, desto begehrenswerter wird sie. Die Bedienung bringt ihr eine Cola, sie hebt das Glas, führt es an ihre Lippen, hält im letzten Moment inne, dreht sich ihm erneut zu und deutet ein Zuprosten an. Er schöpft Mut, hebt seinerseits sein Bierglas hoch und setzt sein schönstes, breitestes Grinsen auf. Sie zögert einen Moment, den Kopf wieder dem Boulevard zuzuwenden und so deutet er mit seinem Zeigefinger erst auf sich und dann auf sie. Er ruft mit dieser Geste zwar weder Zustimmung noch Ablehnung hervor, betrachtet dies aber dennoch als positives Signal, steht auf, geht an ihren Tisch und setzt sich unaufgefordert zu ihr. Sie nimmt es hin, aber seine Versuche ein Gespräch zu beginnen, scheitern. Es mag sein, dass sie ihn nicht versteht, er vermutet aber, dass sie nicht mit ihm reden will. Seine Fragen nach ihrem Namen, ihrem Befinden, ihrer Herkunft bleiben unbeantwortet, seine tastenden Versuche nach Kommunikation, unerwidert. Dennoch spürt er in ihrem Verhalten keine totale Ablehnung. Ratlos bestellt er ein weiteres Bier und deutet fragend auf ihre halbleere Cola. Sie schüttelt den Kopf, wenigstens zeigt sie eine Reaktion. Nun schweigt auch er, wendet aber seinen Blick nicht von diesem rätselhaften, verschlossenen, ausdrucksstarken Gesicht. Eine halbe Stunde sitzen sie so da, schweigend, starrend, an den Getränken nippend. Plötzlich sagt sie ein Wort, ein einziges. Erst versteht er es nicht, so überrascht ist er. Sie sagt es noch einmal: Hunger.

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