Die schweigsame Frau

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Die schweigsame Frau

Die schweigsame Frau

Yupag Chinasky

Als er zum zweiten Mal an dem Cafe vorbeikommt, sitzt sie immer noch in dem kleinen Vorgarten. Die Frau, die ihm gleich aufgefallen war, weil sie unbewegt und mit stoischer Mine den aggressiven Trubel um sich herum betrachtet: die unablässig vorbeiströmenden Menschen auf der Suche nach Zerstreuung, nach dem Kick oder weil sie ihren Geschäften nachgehen, die im Schritttempo fahrenden, ständig hupenden Autos, die wespenartig kreischenden Kleinmotorräder. Sie stört sich anscheinend nicht an dem Chaos, dem infernalischen Lärm, dem ätzenden Gestank und der alles noch verstärkenden, nachtwarmen Schwüle. Sie sitzt vor einem fast leeren Glas, als sei sie nicht selbst Teil dieses Treibens auf dem Boulevard der konzentrierten Vergnügungen. Er geht vorbei, dreht aber schon an der übernächsten Kreuzung wieder um, kehrt zu dem Cafe zurück und setzt sich an das andere Ende des Vorgartens. Von hier aus kann er die Frau gut beobachten.

Ihn fasziniert vor allem ihr Gesicht, dieser Blick, der Ruhe ausstrahlt und dennoch Präsenz zeigt. Ihm drängt sich das Photo einer Indiofrau von Alvarez Bravo auf und die Selbstporträts von Frida Kahlo. Die Frau ist nicht mehr ganz jung und auch nicht von einer Schönheit, die sich aufdrängt oder sich beim ersten Anblick erschließt. Sie ist kühl und abweisend, zugleich aber apart und auf suggestive Weise attraktiv. Er fragt sich, was sie wohl hier tut. Sie passt so gar nicht in diese Gegend der schnellen Kontakte, der Anmache, der wahlweise schmachtenden oder aggressiv herausfordernden Blicke, in der niemand lange allein ist. Ob sie wohl auf jemanden wartet? Je länger er sie betrachtet, desto besser gefällt sie ihm. Er malt sich aus, wie er sie anspricht, wie sie sich ihm erst zögerlich, aber dennoch interessiert zuwendet und wie sie dann zusammen in sein Hotel gehen und wie sich alles weitere von selbst ergeben würde. Aber sie schaut so abweisend drein, so völlig desinteressiert an einer Kontaktaufnahme, dass er schon aufgeben und sich eine andere für diese Nacht suchen will. Schließlich fällt ihm der alte Kellnertrick ein. Er winkt die Bedienung zu sich und trägt ihr auf, der Frau dort drüben, ja die, die allein an dem Tisch direkt neben der Straße sitzt, ein Getränk zu bringen. Die Bedienung geht hin, spricht sie an, deutet in seine Richtung. Die Unnahbare schaut kurz zu ihm herüber, ein kaum wahrnehmbares Lächeln huscht über das Gesicht, ein leichtes Nicken, dann wendet sich wieder der Straße zu. Er ärgert sich, dass sie nicht deutlicher reagiert hat, dass sie nicht dankbarer ist, aber je ablehnender sie sich gibt, desto begehrenswerter wird sie. Die Bedienung bringt ihr eine Cola, sie hebt das Glas, führt es an ihre Lippen, hält im letzten Moment inne, dreht sich ihm erneut zu und deutet ein Zuprosten an. Er schöpft Mut, hebt seinerseits sein Bierglas hoch und setzt sein schönstes, breitestes Grinsen auf. Sie zögert einen Moment, den Kopf wieder dem Boulevard zuzuwenden und so deutet er mit seinem Zeigefinger erst auf sich und dann auf sie. Er ruft mit dieser Geste zwar weder Zustimmung noch Ablehnung hervor, betrachtet dies aber dennoch als positives Signal, steht auf, geht an ihren Tisch und setzt sich unaufgefordert zu ihr. Sie nimmt es hin, aber seine Versuche ein Gespräch zu beginnen, scheitern. Es mag sein, dass sie ihn nicht versteht, er vermutet aber, dass sie nicht mit ihm reden will. Seine Fragen nach ihrem Namen, ihrem Befinden, ihrer Herkunft bleiben unbeantwortet, seine tastenden Versuche nach Kommunikation, unerwidert. Dennoch spürt er in ihrem Verhalten keine totale Ablehnung. Ratlos bestellt er ein weiteres Bier und deutet fragend auf ihre halbleere Cola. Sie schüttelt den Kopf, wenigstens zeigt sie eine Reaktion. Nun schweigt auch er, wendet aber seinen Blick nicht von diesem rätselhaften, verschlossenen, ausdrucksstarken Gesicht. Eine halbe Stunde sitzen sie so da, schweigend, starrend, an den Getränken nippend. Plötzlich sagt sie ein Wort, ein einziges. Erst versteht er es nicht, so überrascht ist er. Sie sagt es noch einmal: Hunger.

Er bezahlt, sie stehen auf und verlassen das Cafe. Sie geht zielsicher durch das Chaos ohne sich einmal umzudrehen. Es scheint sie nicht zu interessieren, ob er ihr folgt. Ihm bleibt nur, hinter ihr her zu trotten und das verhalten aufregende Gewackel ihres Hinterns in den engen Jeans zu bewundern. Schließlich betritt sie ein Restaurant, etwas entfernt vom Boulevard, in das sich wohl nur selten Touristen verirren. Der Einrichtung und den Preisen auf der ausliegenden Karte am Eingang nach zu urteilen, gehört es zu einer gehobenen Kategorie. Sie bestellt, nach ausführlichem Studium der Karte und ohne ihn zu fragen eine umfangreiche Mahlzeit, die in verschiedenen Tellern und Schalen serviert wird. Sie isst fast alles auf. Er hat keinen Hunger, trinkt nur ein Bier. Das wievielte an diesem Abend? Auch während des Essens bleiben alle Versuche, das weitere Vorgehen einvernehmlich zu klären, erfolglos. Resigniert beginnt er sich damit abzufinden, dass die Nacht mit dieser Frau wohl nicht so ablaufen wird, wie er es sich vorgestellt hat, aber zugleich weiß er, dass die Faszination, die sie auf ihn ausübt, ungebrochen ist. Seine Erregung und seine Gier nehmen zu. Als sie mit dem Essen fertig ist, fragt er sie direkt, ob sie mit ihm in sein Hotel gehen wolle, immerhin eines der besten am Ort. Sie schweigt, denkt nach und schüttelt dann den Kopf. Aufs neue enttäuscht, beschließt er, jetzt endgültig Schluss zu machen und sie einfach hier sitzen zu lassen. Er lässt die Rechnung kommen und steht wortlos auf, um an der Kasse zu bezahlen. Er ist verblüfft, als sie nach seiner Hand greift, sie fest hält, sich von ihrem Sitz hochzieht und wieder nur ein einziges Wort sagt, das er diesmal sofort versteht: komm.

Und wieder durchpflügen sie zielstrebig das Chaos, sie voran, er in geringem Abstand hinter ihr, ein folgsamer Schoßhund. Das Hotel, das sie schließlich betritt, steht in deutlichem Kontrast zu dem Restaurant. Es ist eine einfache Absteige, ein Stundenhotel der billigeren Sorte. Der Portier scheint sie zu kennen, er gibt ihr unaufgefordert einen Schlüssel und sagt, in seine Richtung gewandt, das Zimmer koste fünfzig Dollar. Für zwei Stunden, fügt er hinzu. Es erscheint ihm viel, aber er zahlt und lässt sich noch zwei Dosen Bier geben. Sie ist schon voraus gegangen und er muss den mürrischen Portier nach der Zimmernummer fragen. Sie hat den Fernseher eingeschaltet, widmet aber der Soapoper keinen Blick. Wortlos verschwindet sie im Bad. Er legt sich auf das Bett, trinkt ein Bier und wartet. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie, mit dem Badetuch umwickelt, wieder auftaucht. Die Haare sind noch nass, der Gesichtsausdruck etwas gelöster, nicht mehr so streng abweisend, ein leises Lächeln liegt auf ihren vollen Lippen. Sie kramt in ihrer Handtasche nach Zigaretten, zündet sich eine an und sagt - money. Er gibt ihr fünfzig Dollar, sie nimmt sie, verstaut sie in ihrer Handtasche und streckt nach kurzem Zögern ihre Hand erneut fordernd aus. Ein weiterer Schein wechselt den Besitzer. Als die Zigarette zu Ende geraucht und das zweite Bier ausgetrunken ist, deutet sie an, dass er sich ausziehen solle. Sie betrachtet ihn eingehend, als er nackt vor ihr steht, macht aber keinerlei Anstalten ihr Badetuch abzulegen. Schließlich fordert sie ihn mit einer weiteren Geste auf, sich hinzulegen. Dann geht sie zur Tür und löscht die Deckenlampe. Es ist dunkel, durch das Fenster scheint das Licht der Straße und er sieht schemenhaft, wie das weiße Tuch endlich auf den Boden fällt. Dann liegt sie neben ihm, stocksteif, ohne sich zu bewegen. Sie wehrt sich nicht, als er beginnt an ihr herumzufummeln, ermuntert ihn aber mit keiner Geste, mit keiner Regung und schon gar nicht mit einem Wort. Sie ist und bleibt stumm. Als er sie auf den Mund küssen will, stößt sie seinen Kopf zurück, duldet aber, dass er sie weiter befingert, liebkost, ableckt. Dann steht sie abrupt auf und er fürchtet schon, dass das Ende der Liebe gekommen sei, bevor sie richtig begonnen hat. Aber sie sucht nur ihre Handtasche, kommt zurück und drückt ihm ein Kondom in die Hand. Sie wartet, bis er es aufgezogen hat und legt sich dann, in einer plötzlichen Anwandlung auf ihn, einfach nur auf ihn und schiebt, irgendwie unbeholfen ihren Leib hin und her. Er umklammert sie, sie treibt ihn mit ihren Bewegungen zur Eile an. Der Akt ist unspektakulär, kurz und fast ohne Höhepunkt. Als er aufstöhnt, wälzt sie sich von ihm herunter und entschwindet erneut im Bad. Er bleibt liegen, unschlüssig, ob er sich verarscht fühlen soll oder nicht, da kommt sie fertig angezogen aus dem Bad und geht zur Tür. Er springt auf, beeilt sich, seine Kleider anzuziehen, sucht seine Schuhe, die er nicht finden kann, geht nun auch zur Tür, macht das Licht an und sagt, sie solle bleiben, wobei er auf das Bett deutet. Sie schaut ihn einen Moment wieder mit diesem stoischen Indioblick an, der ihn aufs neue erregt, schüttelt aber dann den Kopf. Er ist enttäuscht, steht unschlüssig, unfertig herum. Sie öffnet die Tür, zögert, als ob ihr etwas einfiele, schließt sie wieder und kommt rasch auf ihn zu, umarmt ihn stürmisch, küsst ihn, die Zunge weit in seinen Mund schiebend, klammert sich an ihn, reibt ihre Beine an seine. Ihre Hände wandern auf seinen Rücken, seinen Hintern, seine Oberschenkel. Er ist völlig perplex. Doch als er schon meint, eine zweite Runde sei angesagt, löst sie sich rasch von ihm und lacht ihn zum ersten Mal richtig an und er ist überwältigt von ihrem Lachen. Doch ehe er diese neue Erfahrung genießen kann, ist sie draußen und drückt die Tür demonstrativ vor seiner Nase zu. Als er zur Rezeption kommt und den Schlüssel abgibt, ist sie schon weg. Halb missmutig, halb beglückt macht er sich auf den Weg zu seinem Hotel. Als er vor seinem Zimmer steht und nach der Türkarte tastet, merkt er, dass sein Portemonnaie weg ist, mit dem restlichen Geld und der Kreditkarte – was für ein bodenloser Leichtsinn, diese Schlampe. Fluchend geht er zur Rezeption, lässt sich das Zimmer aufsperren und ruft die Notfallnummer an, um die Kreditkarte sperren zu lassen. Dann setzt er sich auf die Bettkante, holt sich ein Bier aus der Minibar und räsoniert, was er doch für ein grandioser Idiot ist und dass er dennoch diesen Abend nie, nie hätte missen wollen und langsam findet er seinen inneren Frieden wieder.

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