Schwester Ju

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Schwester Ju

Schwester Ju

Anita Isiris

Du bist der Spiegel meiner Seele, in Dir verschärft sich, was ich oft nur verschwommen, in Schemen, erlebe und wahrnehme. Es sind Dinge, von denen ich noch nichts weiss, wenn ich am Morgen aufstehe, am Abend bin ich aber kundig, mit brennender Seele, mit pulsierendem Geschlecht, und mit einem tiefen Verlangen nach mehr.

Heute habe ich meine Arbeit auf der Neurorehabilitation aufgenommen. Ich bin ja erst 18 Jahre alt und rasch überfordert, wenn es um wirklich schwere Krankheitsbilder, um Unfälle unerträglichen Ausmasses, um Schädel-Hirn-Traumata geht. Ich kenne mich mit globaler Aphasie, mit Broca-Feldern und mit Bobath-Konzepten nur theoretisch aus – mir fehlt die Empirie, die Erfahrung, das „Bauchgefühl“, dass es mit dem einen oder andern der mir anvertrauten Patienten gut herauskommt. Nicht nur als Berufsfrau bin ich unerfahren, sondern im Leben ganz allgemein. Viele meiner Kolleginnen haben schon einmal mit einem Mann geschlafen, oder sie hatten zumindest Petting, ich aber noch nie. Dabei bin ich doch hübsch und Abenteuern keineswegs abgeneigt.

Die Ausbildung, das viele Lernen, meine kranke Mutter haben mich aber bisher einfach zu stark in Anspruch genommen, als dass ich Zeit gehabt hätte für Parties, Bars, Saturday Night Fever.

Dann lag da dieser Jan. Als ich ihn zum ersten Mal sah, schlief er. Er wirkte wie ein Engel, mit seinem schön geschnittenen Gesicht und den dunklen Locken, und er atmete ruhig. Jan hatte mehrere Monate auf der Überwachungsstation der neurochirurgischen Klinik zugebracht; sein Zustand war immer instabil gewesen. Er hatte einen Horrorunfall gebaut mit seiner alten Honda 1000 – nur weil die Bremsen versagt und die Tanne am falschen Ort gestanden hatte.

In letzter Zeit ging es ihm sehr viel besser; er sprach wieder, und auch von der Schädelfraktur war nicht mehr viel zu sehen.

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