Das sah dann bei Lisa, Anne, Vera und Yvonne schon ganz anders aus: mädchenhaft eben, mit Plüschtieren, Setzkästen mit bizarrem Inhalt und venezianischen Masken. Clara ärgerte sich mal wieder über ihr dichtes rotes Haar, das sich mit den brüchigen Spangen kaum im Zaum halten liess. Und dann diese Uniform! Wehmütig legte sie ihren Sommerrock in den Schrank und tauschte ihn ein gegen das kurze blaue Schulkleid mit dem weissen Stehkragen. Einmal mehr ärgerte sie sich über ihre viel zu grossen Brüste, die da kaum hineinpassen wollten. Dann bückte sie sich um die Sandaletten zu schliessen. Natürlich kam Clara zu spät zur Abendversammlung. Behände wie eine Chinesin auf Lotusfüssen eilte sie auf die verglaste Veranda zu – aber die grosse Bogentür war bereits geschlossen. Für jedes Zuspätkommen gab es eine Strafe. Die Mädchen redeten nie darüber. Clara hatte keine Ahnung, mit was für Erziehungsmethoden ihre Internatskolleginnen zu Pünktlichkeit angehalten wurden. Alle Köpfe wandten sich zu ihr. Clara nahm am hintersten Tisch Platz und hätte sich trotz ihres etwas fülligen Körpers im Boden verkriechen können. Die Schulleiterin liess sich nichts anmerken und verlas die Präsenzliste. Als die Reihe an Clara kam, räusperte sie sich. "Clara Zadina", rief sie gedehnt in den Raum. Clara erhob sich. "Vortreten!" Den militärischen Stil hatte die neue Rektorin, Frau Stanglmaier, von ihrer Vorgängerin übernommen, wenngleich sie um etliches weicher war. Oft umspielten sogar Lachfalten ihre tiefgrünen Augen. Mit Herzklopfen schlängelte Clara sich zwischen den Schultern ihrer sitzenden Kolleginnen durch und trat vor Frau Stanglmaier. "Clara Zadina", wiederholte diese, "wissen Sie, was zu spät Kommende erwartet?" Clara wusste es nicht und schüttelte den Kopf. Sie war hungrig und hätte viel darum gegeben, aus den Töpfen von Emma Lieberkäs, der Köchin, zu naschen.
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