Silja und der Schäfer

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Silja und der Schäfer

Silja und der Schäfer

Anita Isiris

Nino, der Vater des kleinen Julius, hatte zwei Seiten, wie sich bald einmal heraus stellte. Von Siljas Familie liebevoll aufgenommen, schaffte er sich bald einmal seinen festen Platz im Frauenhaushalt. Von Siljas Vater mehr geduldet denn geliebt, machte Nino sich immer dann aus dem Staub, wenn der Musiker im Anmarsch war, von der Mailänder Scala, von Prag, Monaco oder Juist, einer kleinen Nordseeinsel.

Der Schäfer erwies sich schon nur deshalb als leiblicher Vater von Julius, weil er denselben Lockenkopf hatte. Auch die Nase der beiden war identisch geformt – der beliebte Spruch vom Apfel und vom Stamm erlangte konkrete Bedeutung. Tagsüber schenkte Nino seiner Schafherde die volle Aufmerksamkeit und nahm den Kleinen im Tragetuch mit, um ihn mit der Natur vertraut zu machen. Beim Einnachten, als die Tiere versorgt und im Stall waren, setzte er sich zu den fünf Frauen an den Familientisch und langte kräftig zu. Auch auf Siljas Mutter hatte er ein Auge geworfen, bewunderte ihre Musikalität, ihren Fleiss und ihre Ausstrahlung. Siljas Mutter war 40 Jahre alt und befand sich somit in einer Lebensspanne, in der sich fast jede Frau dieselbe Frage stellt: Bin ich noch attraktiv? Könnte es sein, dass sich noch einmal ein Mann nach mir umdreht – trotz meiner feinen Falten in den Augenwinkeln und trotz meines nicht mehr ganz taufrischen Busens? Oh doch, nach Siljas Mutter drehten die Männer sich noch um, und zwar gleich scharenweise. Wenn sie sich an Vortragsübungen präsentierte, im engen roten Kleid, stellte sie jeweils den Pianisten in den Schatten und verführte mit ihrer wohlklingenden Operettenstimme. Zudem war Siljas Mutter eine fröhliche, warmherzige Frau, die wusste, worauf es ankam. Trotz alledem war sie ihrem Gemahl bis anhin treu geblieben. Erotische Gedanken behielt sie diskret für sich und mochte Streichelspiele vor dem Einschlafen noch fast lieber als ihre Tochter Silja.

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