Sina und der Aal

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Sina und der Aal

Sina und der Aal

Anita Isiris

Er hatte herausgefunden, dass Sina Tochter einer armen Fischerfamilie war und sich mit ganzem Herzen für ihre Angehörigen einsetzte. Liebhaber hielten sich von ihr fern. Seit kurzem trieben nämlich christliche Missionare auch in der Südsee ihr Unwesen und hatten die freie Liebe strengstens untersagt. Nun beschlich also die lebensfreudigen Polynesier das schlechte Gewissen. Das permanente schlechte Gewissen der gesamten Christenheit begann allmählich, sogar in den entlegenen Winkeln dieser Welt Fuss zu fassen. Die keusche Sina hatte aber dennoch eine Leidenschaft, der sie täglich frönte. An einem Wasserfall im Landesinnern genoss sie täglich ein Bad, gut geschützt von dichtem Buschwerk, das nur diejenigen zu durchdringen verstanden, die die Gegend kannten. Der Prinz hörte nur noch mit halbem Ohr zu, dermassen erregte ihn der Gedanke, Sina bei ihrem Bad zu beobachten. Der Gedanke war aber derart verwegen, dass er ihn nicht einmal Lumor anvertrauen konnte. Er entlöhnte seinen “Agenten” fürstlich und versank in stundenlanges Brüten. Es gab nur einen Weg, Sinas Körper zu erkunden: Er musste sich in einen Aal verwandeln – wohl wissend, dass es von dieser Verwandlung keine Rückkehr gab. Mittlerweile liebte er aber Sina derart glühend, dass er das Essen in den Schalen ruhen liess, den Mond nicht mehr betrachtete und sich Abend für Abend stundenlang in seinem Schlafgemach wälzte. Noch in derselben Nacht stellte er eigenhändig die Essenzen zusammen, die für die Verwandlung vonnöten waren und machte sich auf den Weg ins Landesinnere. Nach über zwei Stunden erreichte er den Wasserfall und war sogleich aufs Höchste erregt. Hier also war der Erdenfleck, an dem Sina sich Tag für Tag ihrer Badeleidenschaft hingab –wohl der einzige kleine Luxus in ihrem arbeitsreichen Leben. Er betrachtete ein letztes Mal den Vollmond, schloss die Augen und trank in einem Zug die bittere Zauberessenz, die er in einer Lederflasche bei sich hatte.

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