Ich gehe selten aus zurzeit. Zu düster sind die Wolken, die sich über meiner verarmten Familie zusammenziehen. Und doch reizt es mich dann und wann, mich zu zeigen. Öffentlich. Ohne Tabus.
Von meiner Grossmutter habe ich bloss ein Spitzennachthemd geerbt. Frisch gestärkt, in blütenreinem Weiss. Hier in der Stadt würde das Weiss rasch einem Grauschleier weichen, wusste ich. Dennoch: Ich musste in dem Teil raus.
Ich machte mich vor dem halbblinden Spiegel hübsch. Cajal. Etwas Rouge. Deoroll unter die Achseln. Da ich von Natur aus schön bin, braucht's nicht mehr, um meine Vorzüge zu unterstreichen. Mein schwarzes Haar glänzte verführerisch, und ich trug eine kleine, aber wirkungsvolle Perlenkette um den Hals.
Das Spitzennachthemd würde den Männern da draussen den Rest geben. Wilde waren es, Chaoten, Anarchisten, die das Versagen der Regierung mit Vandalismus bekämpften. Gestaute sexuelle Lust, sublimiert in Aggression. Aber sie würden mich in Ruhe lassen.
Ich streifte mir das ehrenwerte Kleidungsstück also über – mit nichts drunter, wie sich das bei Nachthemden gehört. Ich ging barfuss. Im Erdgeschoss hatte ich sofort den Souvlaki-Duft der Imbissbude um die Ecke in der Nase. Da musste ich hin. Ich hatte nur noch wenige Euros in meiner Handtasche, aber genug für etwas Retsina, mit dem ich die Souvlaki runterspülen würde.
Aus stummen Gesichtern wurde ich angestarrt, ausgezogen. Wollte ich das? Ja, ich wollte. Ich wollte das Kopfkino anwerfen in diesen verrohten Männern, die nur noch herumlungerten und plünderten. „Hey“, wollte ich ihnen sagen. „Seht her. Es gibt noch Hoffnung. Hoffnung auf etwas Romantik vielleicht, auf einen flüchtigen Kuss, bei gegenseitiger Sympathie auf einen Blick unters Spitzennachthemd.“
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