Oder verbarg sich hinter manchem dieser unscheinbaren Gesichter, die sie erkundeten, abschätzten, in Gier vereinnahmten oder melancholisch, hoffnungs- und absichtslos begehrten und verehrten, jener nur für sie bestimmte Schatz der ekstatischen Erfüllung aller Sehnsüchte nach tiefstem Erleben, nach Vereinigung und Verlieren in einander und der eigenen und gemeinsamen Lust?
Immer weniger hielt sie im Cafe oder rauf den langen Fahrten zur Arbeit in Bahn und U-Bahn Ausschau nach einem an ihre Seite passenden attraktiven Mann. Sie unterschied nicht mehr nach alt und jung, agil oder verbraucht, kräftigem oder schütterem Haar, nicht nach blond, brunette, schwarz oder ergraut. Sie suchte nur noch den Blick des Mannes, die Kraft, mit der er dem ihren standhielt, die Frage, die Sehnsucht, das Verlangen, was immer er beschrieb oder sie in ihm zu lesen vermeinte. Jetzt, da sie auf die Suche gegangen war und ihre Augen bereit waren, sich in denen sehnsüchtiger Männer zu verlieren, hielten immer weniger dieser unbekannten Begegnungen an ihrem anfänglich doch gewagten Blick fest, wandten sich ertappt, beschämt, verunsichert von ihr ab oder vermieden es, dass ihre Blicke sich überhaupt noch einmal trafen.
So trennte sich die Spreu vom Weizen und irgendwann geschah das Unvermeidliche. Sie war gebannt von einem Mann, der ihren suchenden Blick erwidert und sie unverhohlen interessiert, doch ohne jeden besitzergreifenden Anspruch angesehen hatte. Er unterschied sich von denen, die ihren suchenden Blick mit siegesgewissem, überheblichem, selbstzufriedenem Gesichtsausdruck beantworteten. Wo ihr Interesse nur ein Ego gebauchpinselt hatte, wollte sie nicht mehr erfahren. Abgestoßen war sie, auch wenn ihr Verstand noch mäßigend zu wirken suchte und ihr zu bedenken gab, dass dann der Akt doch hemmungslos, leidenschaftlich und unbeschwert sein könnte. Nein, derlei hatte sie mit den Kandidaten aus Kneipe, Betrieb und Fitnessstudio schon erprobt.
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