Der Tanz

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Der Tanz

Der Tanz

Hans van Ooyen

Der Fotograf stellte seine Tasche auf der Bühne ab und setzte sich auf den Rand. Dann holte er eine Kamera aus der Tasche, schaltete sie ein und überprüfte die Einstellungen. Er blickte durch den Sucher auf die Bühne, als müßte er den richtigen Standort noch finden, aber tatsächlich hatte er schon beim Eintreten gewußt, wo er stehen mußte, um die richtigen Bilder zu bekommen. Trotzdem setzte er auch jetzt wieder mit einem leichten Fingerdruck auf den Auslöser die Automatik in Betrieb, stellte auf den Stuhl, die Gitarre und die Mikrofone scharf, las auf der Leiste unter dem Sucherbild die Belichtungswerte ab.
Ein Mann kam auf die Bühne und setzte sich auf den Stuhl. Als er die Gitarre aus dem Ständer nahm, legte er ihr die Finger seiner linken Hand um den Hals und bewegte sie über den Saiten, als spielte er bereits auf ihr.
Der Fotograf zoomte auf die Hand am Gitarrenhals, wechselte dann zum Gesicht des Gitarristen hinauf, vergrößerte jetzt den Ausschnitt, damit er Sucher Hand, Gitarre und Gesicht des Mannes zugleich erfaßte, aber den Auslöser betätigte er noch nicht. Er hielt nur den Mann auf seinem Stuhl im Visier und wartete, vielleicht auf ein Hochziehen der Brauen, auf ein Zucken der Mundwinkel, auf eine plötzliche Falte im Gesicht, wartete, ohne recht zu wissen worauf, wartete aber mit der Gewißheit, bereit zu sein.
Augenblicke bevor der Gitarrist dem Instrument die ersten Töne entlockte, trat plötzlich ein Ausdruck jungenhafter Neugier und Vorfreude in das Gesicht mit dem viel zu mächtigen Schnäuzer. Für einen Moment wirkte der Mann auf seinem Stuhl wie ein kleiner Junge, der sich einen Schnurrbart unter die Nase geklebt hat, um wie ein richtiger Mann auszusehen, und genau in diesem Moment drückte der Fotograf ab. Während er noch das Geräusch des Kameramotors hörte, wußte er, daß es dieses Bild gewesen war, auf das er gewartet hatte.
Der Gitarrist spielte einige Akkorde, wirkte dabei wie jemand, der zum hundertsten Mal ein Übungsstück wiederholt und sich dabei auf alles, nur nicht auf das Instrument in seinen Händen konzentriert. Aber der Fotograf durchschaute ihn schon nach wenigen Takten. Der Mann auf dem Stuhl gab nicht wieder, was ihm in ungezählten Übungsstunden eingebleut worden war - er flüsterte und tuschelte, schrie und weinte, lachte und klagte, jubelte und träumte mit seiner Gitarre, als wäre die nicht aus Holz, Metall und Kunststoff, sondern ein lebendiger Körper mit eigenen Sinnen und eigener Stimme. Seine Finger bewegten sich über die Saiten, als müßten sie die Töne nicht erst finden, sondern als steckten sie in ihnen und würden einfach hervortreten, sobald die Fingerspitzen die Saiten berührten.

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