Tattoo art

Lost in transformations - Teil 2

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Tattoo art

Tattoo art

Yupag Chinasky

An diesem Tag ist es hell in dem großen Raum. Die Sonne steht noch am Himmel, wenngleich schon sehr tief im Westen. Ihre gelbroten Strahlen beleuchten die weiße, hohe Porzellanvase auf ihrem schwarzen Podest, die Materialisierung edelster, klassischer Kunst, die, wie immer, direkt vor den hohen Fenstern steht. Das warme Licht trifft aber dieses Mal auch auf eine gläserne Wanne. Sie ruht auf einem metallenen Gestell und ist der Vase zwei, drei Meter vorgelagert. Auch diese Wanne wäre allein schon ein Kunstobjekt. Sanft geschwungene Linien charakterisieren den schmalen Füllkörper mit einem breiten, ausladenden Wannenrand. Die Wanne, ein Requisit, das jederzeit in Anzeigen für edle Seifen und teure Shampoos verwendet werden könnte. Beide Gegenstände bilden in ihrer Form und Anordnung vor der orangeroten, homogenen Fläche der Fenster ein höchst harmonisches, geschmackvolles Ensemble. Ein wenig gestört wird die wohltuende Harmonie durch zwei Männer in Uniform, Angestellte einer Sakebrauerei, wie die Schriftzüge auf ihren Jacken zeigen, die damit beschäftigt sind, das Produkt ihrer Firma in die Wanne zu füllen. Sie heben gemeinsam eines der Holzfässer, die mit prachtvollen, farbenfrohen Tüchern umwickelt sind, auf den breiten Rand und entleeren die wasserhelle Flüssigkeit in die Wanne. Nachdem auf diese Weise vier Fässer geleert sind und die Wanne zu zwei Dritteln gefüllt ist, verlassen die beiden Männer den Raum. Sie nehmen die leeren Fässer mit und geben die Bühne frei für das dritte Kunstwerk.
Das dritte Kunstwerk ist die Hauptperson dieses Abends, die während der Befüllung in einen flauschigen, weißen Bademantel gehüllt auf einem Schemel gewartet hat. Diese Person steht nun auf und geht, nein, sie schreitet die paar Meter bis zu der Wanne, stellt sich davor auf, dreht sich betont langsam den anderen Anwesenden zu, begibt sich so in eine Position, in der sie gut beobachtet werden kann, öffnet dann noch langsamer den Gürtel, streift den Mantel im absoluten Schneckentempo über die Schultern und lässt ihn, wie zäher Honig, zu Boden gleiten, Zentimeter für Zentimeter und enthüllt so, nach und nach, Stückchen für Stückchen, einen wunderschönen, formvollendeten Körper. Jetzt steht diese Person nackt und bloß, aber strotzend vor Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein und ihrer Wirkung voll bewusst, neben der Sakewanne. Es ist eine junge Mulattin mit heller Schokoladenhaut und tiefschwarzen Haaren, die zu einem kleinen Turm im Nacken gebunden sind. Die Attraktivität rührt von ihrem schmalen Gesicht, ihren ausdrucksvollen, unergründlichen Augen, den vollen, dezent geschminkten Lippen, über die ab und zu eine schmale, rosarote Zunge streicht, ein bewegliches Tierchen, das hie und da seine Höhle verlässt. Die Frau ist zu klein für ein Modell, aber sie hat eine tadellose Figur, schlank und rank mit festen, wohl proportionierten, Brüsten, die aufrecht stehen, einer schmalen Taille, ein wenig ausladenden Hüften, einem straffen Hintern und eleganten Beinen, mit kräftigen Oberschenkeln, ausgeprägten Waden, schmalen Fesseln und kleinen Füßen. Die junge Frau, weiß, dass sie gut aussieht. Sie hat Übung darin, bewundert zu werden. Sie präsentiert ihren formidablen Körper selbstsicher, ohne Verklemmtheit, ohne zickige Zurückhaltung und zeigt alle Details gänzlich ohne falsche Scham. Dieses objet d'art, das schönste Kunstwerk in diesem schönen, harmonischen Raum bleibt lange unbeweglich neben der Wanne stehen, die Arme in die Hüften gestemmt, die Hände auf den harmonischen Rundungen. Die Finger sind lang, die Nägel gepflegt und kunstvoll lackiert. Die Mulattin präsentiert ihre körperlichen Vorzüge auf eine Weise, die einem edlen Kunstwerk angemessene ist. Nicht plump, Effekt haschend, nicht billige Aufmerksamkeit heischend. Sie ist keine Stripperin, die Geilheit erregen will und schon gar keine Nutte, die sich anbieten muss, die sich unbedingt verkaufen muss, um davon zu leben. Nein, dass alles hat sie nicht nötig. Sie ist ein lebendes Kunstwerk und sie ist sich ihres Wertes genauso bewusst, wie ihrer Ausstrahlung, ihrer Wirkung auf Männer, auf die Hengste, wie auf die Scheintoten. Sie ist der ästhetische Höhepunkt in diesem privaten Museum mit den ausgesuchten Bildern an den Wänden, dem transparenten Kunstwerk Glaswanne, der harmonischen, weißen Vase und den roten Fenstern, die mit dem weiten Blick in die Ferne, eigenständige Gemälde darstellen. Alles, was hier versammelt ist, ist edle Kunst vom Feinsten.
Nach einer Weile der Kontemplation und der Admiration verwandelt sich das Kunstwerk wieder in einen Menschen, in eine braune Venus, die sich kokett in den Hüften wiegt, mit dem straffen Po wackelt, die nicht minder straffen Brüste vor reckt und dann ein paar Schrittchen tänzelt, ein paar Schrittchen hin, ein paar Schrittchen her, ein bisschen Catwalk, ein wenig Laufsteg, Haute Couture völlig nackt ohne ablenkende Hüllen, kein Dior, kein Lagerfeld. Man merkt an ihren Bewegungen sofort, dass sie ein Profi ist, dass sie sich bestimmt nicht zum ersten Mal auf diese Weise zeigt. Sich ausziehen, sich präsentieren, sich darstellen, vielleicht doch auch sich verkaufen, für viel Geld, wer weiß, das gehört zu ihrem Geschäft. Sie weiß, was sie zu bieten hat und wie sie es anstellen muss, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, um ihr Interesse zu erregen, um sie geil und scharf zu machen. Sie weiß, was ihr Körper wert ist, sie kennt ihr Kapital, von dem sie lebt. Zu dem guten Aussehen kommt noch ein natürliches, süßes, unschuldiges, kokettes, verruchtes Lächeln, das sie ausgiebig verteilt. Das Lächeln einer geborenen Verführerin und dazu der geheimnisvolle Blick aus den schwarzen Augen, der alles verheißt und alles verspricht. Einer der Zuschauer stöhnt laut auf. Wie sie so dasteht, sich dreht, sich etwas wiegt, etwas herum tippelt, redet ihr Körper, ohne dass sie Worte bräuchte. Er sagt, schaut her, hier bin ich, so bin ich, ich bin die Frau des Abends, ich habe mehr zu bieten als eure Mädchen, diese blassen, dünnen, busenlose Gerippe mit ihren kleinen Schlitzäuglein. Ich bin aufregend und begehrenswert und ihr werdet mit mir zufrieden sein, egal was da kommt, egal, was ihr von mir wollt.
Nachdem sie das gesagt hat, nachdem sie sich der Aufmerksamkeit und der Bewunderung sicher ist, steigt sie, manieriert wie ein Zirkuspferdchen, in die mit Sake halb gefüllte Wanne. Sie bleibt erst stehen, mit den Füßen tastend, skeptisch schauend, als ob sie sich an die Temperatur und an die seltsame Flüssigkeit gewöhnen müsst, als ob sie es nicht glauben könnte, in solch ein Bad einzutauchen. Doch dann lässt sie sich nieder, auch das langsam und sehr elegant. Der Körper senkt sich, die Arme stützen sich auf den Rand, dann taucht der Po ein, danach die Oberschenkel, schließlich der ganze Unterleib. Nun sitzt sie in der Sake und nur noch der Oberkörper und die Arme ragen heraus. Den Rest ihres Leibes sieht man trotzdem in dem gläsernen Zuber, in der wasserhellen Sake. Und so fügte sich Schokolade zum Elixier der Träume, edle, halb bittere, halb süße braune Schokolade zu dem klaren Trank der Götter. Das Eintauchen wird von einer Sonne beleuchtet, die inzwischen nur noch knapp über dem Horizont steht, nur noch rote Strahlen aussendet und in dem Raum ein geheimnisvolles, magisches Licht verbreitet. Es ist eine unwirkliche, ästhetisch faszinierende Szenerie: der rote Hintergrund der Fenster, das harmonische Gleichmaß aus weißer Vase und gläserner Wanne und wohlgeformte Frauenkörper, der nur noch als dunkler Scherenschnitt zu erkennen ist.  
Diesen vollendeten Auftritt verfolgen jedoch nur wenig Bewunderer. Einer, der die Inszenierung genießt, ist der schrille Fotograf, dieses Mal mit roter Irokesenfrisur, grüner Latzhose und bunt kariertem Hemd. Seine Sonnenbrille ist auffallend schlicht, eine Nickelbrille à la Araki oder John Lennon. Er räumt den Schemel weg, auf dem die Venus gewartet hatte, hebt den Bademantel auf, den sie so lasziv auf den Fußboden hatte gleiten lassen und beginnt dann mit seiner Arbeit und man hört nur noch den Verschluss seiner Kamera. Er arbeitet effizient und schnell. Er muss das schwindende Licht einfangen, die seltsame, geheimnisvolle Stimmung festhalten, bevor er eigenes Licht benötigt und mit seinen Leuchten und Blitzen die romantische Atmosphäre verändert. Er kann sich ganz auf die Frau konzentrieren, muss ihr kaum Anweisungen geben, kaum Anregungen übermitteln. Sie ist ein gutes Modell, ein Naturtalent, eine die selbst die besten Stellungen, die vorteilhaftesten Posen findet. Er kennt sie, wenn auch noch nicht lange. Er hat ihr diesen Auftritt vermittelt. Ihm hat sie zu verdanken, dass sie an diesem Abend viel gutes Geld nach Hause bringen wird. Dafür muss sie ihm dankbar sein und ihr Bestes geben, hier und später, wenn das Happening vorbei ist und sie bei ihm oder bei ihr den Erfolg feiern. Ihr vorerst Bestes gibt sie in der Tat. Sie dehnt und streckt sich, planscht ein wenig, steht auf, wackelt mit allem, was ihr zum Wackeln gegeben ist, posiert und positioniert sich immer wieder neu. Der Fotograf drückt ab, bannt ein Bild nach dem anderen auf den Speicherchip, die Kamera kommt nicht zur Ruhe, er kommt nicht zur Ruhe, der Schokotraum in der Glaswanne auch nicht. Aber irgendwann ist dann doch Schluss, das Licht ist zu schwach geworden und die beiden haben alle Varianten, die in einer solchen Situation möglich sind, durchgespielt. Der Schrille macht eine Pause und das Mädchen fragt ihn, was das denn für ein Saft sei, in dem sie sitzen muss. Der Fotograf klärt sie auf, lacht lauthals, fordert sie auf, den Saft zu probieren, einen Schluck zu trinken. Er taucht zur Bestätigung, dass dies möglich ist, seine Hand ein und führt sie, die hohle, gefüllte Hand, zum Mund und schlürft und schlabbert und leckt genießerisch. Vorsichtig, als ob sie seinen Worten und auch der Tat immer noch keinen Glauben schenken könne, schöpft sie nun selbst ein wenig Sake, auch mit der hohlen Hand und nimmt ein Schlückchen. Sie ist angetan, ihr Gesicht verliert den vorsichtigen, ängstlichen Ausdruck. Sie probiert einen zweiten Schluck und dann sitzt sie fröhlich lächelnd und entspannt in der Glaswanne und schaut zu dem Fenster und hinaus, auf die Lichter der riesigen Stadt, die immer zahlreicher werden und zu dem Himmel, der seine rote Farbe und seinen Glanz allmählich verliert und in das Dunkel der Nacht übergeht und in die Ferne, die an diesem klaren Tag wieder sichtbar ist.
Der Fotograf hat seine Leuchten aufgebaut und eingeschaltet und damit den Zauber aus dem Raum vertrieben. Dann macht er den Platz an der Wanne frei, geht zum Laptop und die ersten Megadateien finden den Weg zu dem digital aritst. Der Alte, der wie immer auf seinem niedrigen Sofa Platz genommen hat, trägt an diesem Tag einen lindgrünen Yukata mit Schuppenmuster und sehr weiten Ärmeln. Der Yukata wird von einem großen Natsuke geschlossen gehalten, einem Gürtelknopf aus leuchtend roter Koralle in Form eines Zyklopen, eines bärtigen, männlichen Gesichts mit nur einem Auge. Der Alte ist vergnügt und von dem bisherigen Geschehen höchst angetan. Keine Sekunde hat er den Blick von der phantastisch kitschigen Szenerie gewendet. Keine Sekunde hat er die junge Frau aus den Augen gelassen. Er schaut lüstern und wohlig entspannt auf die Glaswanne und ergötzt sich an ihrem Inhalt. Schauer des Wohlbefindens laufen über seinen Rücken, wenn er an den köstlichen Sake denkt, und in seinen Lenden zuckt es, wenn er sich auf die braune Haut und die edlen Formen konzentriert. Er ist froh, dass er dem Vorschlag des Fotografen gefolgt ist, das anstehende Kunstwerk mit einem außergewöhnlichen Modell, einer so exquisiten, exotischen Schönheit zu wagen. Als er beobachtet, wie sie ein Schlückchen Sake trinkt und sich danach selig lächelt und voller Wohlbefinden zurücklehnt, klatscht er in die Hände und reibt sich das Kinn. Der Auftakt des Abends ist wunderbar, der Höhepunkt ist aber noch lange nicht erreicht, noch liegt viel Arbeit vor allen Beteiligten. Er löst den Blick von dieser anmutigen Gestalt und schaut sich um. Dann winkt er die Person herbei, die sich bisher dezent im Hintergrund aufgehalten hat. Der dritte Mann soll mit seiner Arbeit beginnen, der wahre Künstler des Abends, ein tatoo artist. Dieser, ein Mann in fortgeschrittenem Alter, der ziemlich zerbrechlich wirkt, geht zu der Fensterfront, stellt sich neben die Wanne, verbeugt sich tief vor dem Alten und wendet sich dann mit einer angedeuteten Verbeugung der jungen Frau zu, auf deren Körper seine Kunst entstehen soll und die zugleich ihr Opfer werden wird. Das Drama nimmt seinen Auftakt.
Der tattoo artist, ein berühmter Künstler, einer der Besten seines Fachs, stellt zwei kleine Schemel neben die Wanne. Auf den einen setzt er sich, auf dem anderen breitet er ein weißes Seidentuch aus. Als nächstes entnimmt er einem alten, lackierten Bambusköfferchen einige Stichel, Nadeln und Skalpelle. Bevor er sie auf das Tuch legt, prüft er mit dem Daumen sorgfältig ihre Schärfen und inspiziert mit seinen kurzsichtigen Augen ihre Spitzen. Als nächstes entnimmt er vier Tontiegel und stellt sie ebenfalls auf das Tuch. Nacheinander öffnet er ihre Deckel und rührt mit kleinen Holzstäbchen in der grünen, blauen, schwarzen und roten Paste, bis ihm die Konsistenz zusagt. Mehr Geräte braucht er für seine Arbeit nicht. Er arbeitet nach der alten, traditionellen Methode, macht kleine Stiche und Schnitte in die Haut und nimmt winzige Abschabungen vor. In die Wunden reibt der die Farben. Nachdem er seine Vorbereitungen getroffen hat, alles liegt griffbereit auf dem Schemel mit dem Tuch, wendet er sich nochmals der jungen Frau zu. Er steht auf, geht langsam um sie herum, betrachtet sie eingehend von allen Seiten. Sie fühlt sich unter seiner kritischen Beobachtung sichtlich unwohl. Ihr wohlig gelöste Gesichtsausdruck verschwindet, ihr Blick wird unstet, der Körper spannt sich. Sie bemüht sich konzentriert und ernst zu wirken, anders als bei dem Gehopse und Geplansche für den Fotografen. Aber ihre Angst, der tattoo artist könnte etwas auszusetzen haben oder sie gar ablehnen, ist unbegründet. Auf dem Gesicht des Meisters zeigt sich ein Lächeln, auch er kann sich den Reizen dieser Frau nicht entziehen und murmelt etwas, das sie aber nicht versteht. Der Fotograf, der sich zu den beiden gesellt hat, übersetzt. Es ist eine Anweisung, sich bequem anzulehnen, dass sie ganz ruhig und entspannt bleiben soll und sich nicht bewegen dürfe, solange er an ihre arbeite. Der Tätowierer wartet, bis die junge Frau zustimmend nickt, dann fügt er noch an, er würde Pausen machen, in denen sie sich lockern könne. Die junge Frau schaut immer noch skeptisch und so versichert er ihr noch einmal, dass sie ihm voll vertrauen könne, er habe viele Jahre Erfahrung und ihr würde bestimmt kein Leid angetan, auch wenn es ein wenig unangenehm werden könne.
Die junge Frau ist beruhigt. Sie lehnt sich zurück, mit dem Rücken an das erhöhte Kopfende der Wanne. Die Arme liegen entspannt auf deren Rand. Ihr Oberkörper ragt zur Hälfte aus dem Reiswein, auch die Hälfte ihrer Brüste, deren sanfte Hügel eine kleine Bucht bilden, einen Meeresbusen, einen Hafen und Ankerplatz im Sakemeer. Den Kopf hat sie in Richtung Fenster gedreht und schaut hinaus. Sie blickt hinauf zum Himmel, der nun schwarz geworden ist und auf die Glitzerstadt, die heute intensiv leuchtet und die sie so, von so hoch oben, noch nie gesehen hat und weiter auf den Horizont mit dem kleinen, weißen Kegel des heiligen Berges, der ein eigenes geheimnisvolles Licht zu besitzen scheint. Die Frau gibt sich gelassen, ist aber dennoch angespannt, denn sie weiß, was auf sie zukommt. Sie weiß aus den Gesprächen mit dem Fotografen, dass der Meister mit seinen scharfen Werkzeugen ihre Haut bearbeiten wird, dass er präzise Stich um Stich, Schnitt um Schnitt setzen und dann Farbe in die Wunden einreiben wird. Sie weiß, dass diese Farben Schmerzen verursachen, dass die Haut brennen und jucken wird und dass sich Entzündungen bilden können, die erst nach einigen Tagen wieder abklingen. Der Fotograf, ihr Entdecker und Förderer, der auch gerne ihr Liebhaber sein möchte, hatte ihr das alles ausführlich erklärt und keinen Zweifel gelassen, dass die Prozedur unangenehm und schmerzhaft sein würde. Sie hatte aufmerksam zugehört und dann gesagt, dass ihr das nichts ausmachen würde. Sie könne Schmerzen ertragen, da bräuchte er sich keine Gedanken machen. Sie hatte dem Angebot zugestimmt, denn das Honorar, das der Alte bezahlen wird, ist hoch, aber ihr Lohn wird mehr sein als nur ein prall gefüllter Umschlag. Sie wird die stolze Trägerin eines einmaligen Kunstwerks sein, eines Unikats des berühmten Meisters auf ihrer Haut, der in einschlägigen Kreisen großes Ansehen genießt, wie ihr der Fotograf versicherte. Ein solches Tattoo würde ihren Marktwert als Fotomodell und Tänzerin und Stripperin, falls sie diese Karriere beabsichtige, bedeutend steigern.
Nun wird der Meister gleich mit seiner Arbeit beginnen und sie hat sich fest vorgenommen, die kommenden Stunden klaglos zu überstehen. Sie hat auch ein Mittel gefunden, um ihre Angst zu vertreiben und sich ein wenig unempfindlicher gegen die Schmerzen zu machen, vor denen sie sich trotz aller Beteuerungen fürchtet. Der Hinweis des Fotografen auf den Reiswein, in dem sie sitzt, hatte sie auf den Gedanken gebracht, sich mit Alkohol ein ganz klein wenig zu betäuben, sich damit ein ganz klein wenig zu immunisieren. Während der tattoo artist sich überlegt, wo und wie er sein Kunstwerk platzieren soll und der Fotograf seine Kamera prüft, schöpft sie erneut ein wenig Sake mit der hohlen Hand und trinkt ihn in kleinen Schlückchen. Es ist ein guter Sake und er schmeckt ihr fast so gut, wie der alte Rum, den sie aus ihrer Heimat kennt. Der Tattoomeister spürt ihre Anspannung, kann ihre Angst verstehen und streicht ihr sanft und beruhigend mehrmals über die Haare und die Schultern. Er möchte am liebsten gar nicht aufhören, über diese Haare zu streicheln und diese seltsame, dunkle Haut zu berühren. Auf einer solchen Haut hat er noch nie gearbeitet, eine solch ungewöhnlich schöne Frau hat er noch nie unter seinen Messern und Sticheln gehabt. Auch er spürt eine Anspannung, eine neue Herausforderung, trotz seines Alters, trotz seiner Erfahrung. Der jungen Frau haben die paar Schlückchen und die wenigen Streicheleinheiten gutgetan. Nun liegt sie tatsächlich ruhig und entspannt in ihrem nassen Bett, lässt das, was auf sie zukommt, unbesorgt. Sie muss jetzt nur noch dafür sorgen, dass dieser schwebende Sorgloszustand, diese wohlige Trance, erhalten bleibt. Das sollte kein Problem sein, es ist ja genügend Sake vorhanden.
Der tattoo artist beginnt mit seiner Arbeit. Auf der braunen Haut entsteht nach und nach das Bild eines Drachens, eines geflügelten Wesens mit grüner Haut und schwarzen Konturen. Es soll ein Uwibami werden, ein Fabeltier, das aus den Wolken kommt und die Menschen angreift. Der gedrungene Leib mit den Flügeln bedeckt die rechte Schulter des Mädchens zur Gänze. Der gezackte Schwanz reicht weit den Oberarm hinab bis zum Ellenbogen. Die eine Hintertatze umfasst die apfelförmigen rechten Brüste, die andere krallt sich auf dem Schulterblatt fest. Die Vordertatzen umschlingen den Halsansatz. eine in Höhe des Schlüsselbeins, die andere im Bereich der Nackenwirbel. Der kleine Drachenkopf wird auf dem Hals der Frau platziert. Das Maul mit der roten Zunge dehnt sich zur Mitte der Wange, das orangerote Feuer, das der Drache aus seinen Nüstern speit, endet an der Nase des Modells. Das Besondere an dem Untier wird jedoch dessen Auge sein, nur eines ist sichtbar und das muss leben. Dieses eine Auge wird dem Kunstwerk die Aura des Außergewöhnlichen verleihen. Es ist das Markenzeichen des Meisters, denn nur ein großer Künstler ist in der Lage, ein solches Wunder der Tättoowierkunst auf die Haut eines Modells zu übertragen. Dieses Auge wird den Blick der Betrachter magisch anziehen und festhalten und einen tiefen Eindruck bei ihnen hinterlassen und die Trägerin berühmt machen. Das Besondere an diesem Auge ist, dass es seinen Platz genau über der Halsschlagader haben wird und dass es sich im Takte des Pulses, rhythmisch öffnet und schließt. Wenn die junge Frau, die Herrin, des Drachens, aufgeregt ist oder in Wut gerät, wenn sich dadurch ihre Halsmuskeln anspannen und die Adern hervortreten, wird sich das Auge weit öffnen. Wenn sie entspannt ist oder friedlich schläft und ihr Hals sich entkrampft, und die Adern erschlaffen, wird sich auch das Auge schließen. Das Auge des bösen Drachens als Indikator der Stimmungen und Gefühle der Drachenbeherrscherin, das ist das Besondere, das ist das Geheimnis des tattoo artists.
Doch noch ist es nicht so weit, noch muss das Mädchen die Schmerzen der Geburt des Monsters mit Fassung und Würde ertragen. Und sie ist tapfer! Sie setzt sich mutig und gelassen dem scharfen Messer, dem spitzen Stichel, den piecksenden Nadeln und der brennenden Paste aus. Sie zuckt kaum, sie rührt sich nicht, solange die Werkzeuge ihre Haut berühren, sie klagt nicht und jammert nicht. Nur ihr Gesicht kann die Angst und die Schmerzen nicht völlig unterdrücken. Während der tattoo artist stichelt und schneidet und die kleinen Wunden einfärbt, hält der schrille Fotograf die Entstehung des Werkes in allen Einzelheiten fest. Er fotografiert nicht mehr den attraktiven Körper der jungen Frau, nicht ihren formvollendeten Busen im Sakemeer oder ihre schönen Hände auf dem Wannenrand, sondern ihr leidendes Gesicht, auch dieses Gesicht ist das einer Schmerzensmadonna, wenn auch ganz anders als bei der gepeinigten Geisha. Sein Objektiv konzentriert sich auf dieses Gesicht und auf die Hände des Meisters, der ihr die Schmerzen zufügt. Er hält fest, wie sie virtuos die Werkzeuge führen, wie Nadeln und Skalpelle der Haut die gewünschten Muster verleihen und die scharfen Pasten dem Bildwerk Dauer garantieren. Auf seinen Bildern kann nachvollzogen werden, wie das Kunstwerk entsteht, wie der Drache auf der Schulter sitzt, wie ein Bein den Busen umklammert, wie sich der Kopf an den Hals des Mädchens schmiegt. Der Fotograf arbeitet in dieser Phase nur mit einer kleinen Kamera und einer Handlampe. Er will die Intimität, das Geheimnisvolle der Situation nicht stören. Die Bilder müssen authentisch sein und sollen auch die spannungsgeladene Atmosphäre wiedergeben, in der sich der Meister und das Modell befinden. Um solche Bilder zu machen, kann man nicht mit Blitzlicht arbeiten, das tötet die Stimmung und man kann auch keine großen, starren Leuchten gebrauchen, sie sind zu weit weg und zu unbeweglich und erst recht kein unbewegliches Stativ. Die Details einer solchen Tattookunst muss man spontan, Format füllend und aus größtmöglicher Nähe aufnehmen. Eine Hand hält die Kamera, die andere die Handleuchte. Der Fotograf muss ständig die beste Position suchen, muss versuchen möglichst dicht an seine Objekte heranzugelangen. Dabei kommen sich die beiden Meister schon mal in die Quere. Aber der tattoo artist schaut den Störenfried nur missmutig an und sagt kein Wort. Er will sich nicht aufregen, seinem Herz nicht schaden, will Streit vermeiden, er ist ein friedlicher Mensch und er will konzentriert arbeiten, er will das Kunstwerk noch in dieser Nacht vollenden, er kann das, er ist ein schneller Schaffer. Doch dazu muss er ruhig bleiben, kann aber nicht vermeiden, dass ihn das Verhalten des jungen Mannes nervt. Erstaunlicherweise merkt dies der Fotograf, der ansonsten nicht von größter Sensibilität gepeinigt wird. Um den tattoo artist zu beruhigen und zu versöhnen, holt er eine Teetasse aus Porzellan, taucht sie in die Sake und reicht sie ihm, damit auch er ab und zu einen Schluck trinken kann, zur Beruhigung, zur Aufmunterung, zur Erhöhung der Konzentration, je nach dem, er reicht ihm eine Art Friedenspfeife.

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