Timo - Kapitel 10

Das Polarlicht

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Timo - Kapitel 10

Timo - Kapitel 10

Gero Hard

Vorsichtig, als würde sie die Seiten einer uralten Gutenberg-Bibel berühren, schlägt sie die Seiten um und legt sorgfältig das dünne Pergament darüber.

Ein paar von den Bildern sind aus den Fotoecken gerutscht und liegen lose zwischen den Seiten. Jedes einzelne von ihnen wird sofort wieder an seinen alten Platz gesteckt.

Manchmal streicht sie mit ihren Fingerspitzen ganz sanft über die Gesichter auf den bunten Polaroids und lächelt liebevoll. „Ich liebe und vermisse euch so sehr“, flüstert sie, „aber Timo liebe ich auch und er ist ein ganz wunderbarer Mensch. Darf ich bitte mit ihm zusammen sein? Ist es für euch ok? Es ändert doch nichts daran, dass ihr meine Familie seid, das werdet ihr immer bleiben.“

Sie sieht kurz zu mir auf, ihre Augen sind rot unterlaufen, ihr Blick flehend. ‚Halt mich fest‘, bitten sie.

Ich setzte mich neben sie und lege meinen Arm um ihre Schultern. Ihr Kopf legt sich sachte gegen meinen.

„Sieh mal“, sagt sie, „das ist Alex, eigentlich Alexandra, meine Tochter … und der hier, das ist Heinz.“

Das Verpacken ist jetzt völlig egal geworden. Mir ist nur noch wichtig, dass Julchen in den Bildern eine Antwort auf ihre Frage findet. Eine ganze Stunde lang, zeigt sie mir stolz Bild für Bild, erzählt mir die passenden Hintergründe dazu. Urlaubsorte, Familienfeiern, Kinderschnappschüsse, auf denen das kleine Mädchen völlig dreckverschmiert in die Kamera lacht, Portraits, die offensichtlich von einem Fotografen gemacht wurden. Bilder einer völlig intakten Familie.

Heinz ist am wenigstens zu sehen. Vermutlich hat er die meisten der Bilder geknipst. Das Album erzählt die Geschichte von Alexandra, dem kleinen blonden Mädchen, das mit jedem Bild ein Stückchen älter und hübscher wird. Die blonden Haare ziehen sich demnach wie ein roter Faden durch die Vererbungslehre der weiblichen Familienmitglieder, genau wie ihre Schönheit.

Erste Bilder von Alex als junge Frau, dann auch schon mal mit dem einen oder anderen jungen Mann an ihrer Seite, bis es dann immer der gleiche Mann ist, der neben der hübschen Frau stehen darf.

Dann erste Bilder von einer jungen Familie mit einem kleinen Säugling auf dem Arm, später dann ein zweites Kind, bis die Bilder dann plötzlich aufhören. Die letzten 2 Seiten des Albums sind leer geblieben. Den traurigen Abschluss bildet die sorgfältig ausgeschnitten Traueranzeige einer Tageszeitung, auf der mit herzergreifenden Worten der Verlust ihrer Tochter und Julias Mann zu lesen steht, dazu die Kopien der Sterbeurkunden aus dem Familienstammbuch.

Mein Gott, ich bin zwar ein Mann, aber hier und jetzt ist es vorbei mit dem blöden Spruch: ‚als Mann weint man nicht‘.

Julia sinkt in meinen Armen kraftlos zusammen. Das Album hat sie emotional an ihre Grenzen gebracht. Ich kann sie verstehen, mir geht es gerade auch nicht besonders gut. Minutenlang umarmen wir uns und weinen gemeinsam. Ich habe das Gefühl, es hilft ihr. „Danke, dass du da bist“, flüstert sie und klammert sich wie ein hilfesuchendes Äffchen an mich.

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