Viel Zeit verloren

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Viel Zeit verloren

Viel Zeit verloren

Patricia Lester

Zeit war immer ein unwichtiger Begriff gewesen, bis zu jenem Abend, an dem Desirée nach Hause zurückkehrte, in den Spiegel sah, die kleinen Fältchen entdeckte, als habe sich eine Spinne eine neue Heimat gesucht, und die letzten Stunden aus ihrem Gedächtnis zu streichen versuchte. Es gelang nicht, und als Desirée mit scheuen Fingern behutsam die zarten Linien nachzeichnete, wusste sie, dass sie mit ihrer Zeit zu großzügig umgegangen war. Sie hatte sie verschwendet, viele Jahre, und jetzt war sie an einem Punkt, an dem sie innehalten und vor allem haushalten musste.Auf einmal sah sie den Bogen vor sich, der sich über ihr spannte. Mit fünfzehn waren es die Hosenträger gewesen, an die sie blind, neugierig und dann schmerzhaft Zeit verloren hatte. Heute war sie bei einem Datenträger gelandet und gestrandet. Peer war sein Name. Sein fassungsloses Gesicht, sie war aufgestanden von dem schwarzen Bett, dessen bügelfreie Laken wie unbenutzt dalagen, als ob sie das kurze Spiel unbeschadet überstanden hatten, war nicht nur eine Anklage gewesen, sondern viel, viel mehr.
Desirée holte ihr Tagebuch aus jenen fernen Zeiten, las die Namen, ihre geheimen Kürzel, die sie daneben gesetzt hatte, und versuchte, sich deren Träger vorzustellen.
Tim war der erste Hosenträger gewesen, damals, als Birkenstocksandalen mit schlurfendem Schritt gegen die Bourgeoisie protestierten. Doch Tim war nur ein kleiner Ableger gewesen. Er kämmte regelmäßig die Fransen seines Teppichs, seine Kissen wiesen den grauenhaft exakten Zirkelknick auf, und vor dem Sex spielte er Trivial Pursuit, und danach trank er grünen Tee mit Vanillegeschmack. Als Einstieg in die Welt der Träger war er Desirée als brauchbar erschienen, er war beim ersten Mal vorsichtig vorgegangen, und später, als sie keine Schmerzen mehr verspürte, empfand sie seinen Körper als wohltuend. Sie kannte nichts anderes. Diese rituellen, gleichförmigen Bewegungen, die bei ihm in einem unterdrücken Schrei endeten, ihr ein seufzendes Miauen entlockten, schienen den üblichen Regeln eines guten, normalen Beischlafs zu folgen.
Desirée lachte und blätterte ein paar Seiten und damit ein paar Jahre weiter. Sie hatte ihre Ausbildung beendet, einen gut bezahlten Job in einer Versicherung bekommen, als sie Frank traf. Er stellte sich als eindeutiger Missgriff heraus, musste sie ihn doch in die Kategorie der Hoffnungsträger einordnen. Wie es passieren konnte, wusste sie nicht. Sie hatten alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Und als er dann von ihrem Zustand hörte, hatte er sie angesehen, als habe sie seinen Lottoschein mit den sechs Richtigen weggeworfen, und war aus ihrem Leben verschwunden.
Nach der Abtreibung war Desirée über Monate in einem Nebel verharrt, in dem sie nur noch die Konturen wahrnahm, die sie am Leben erhielten. Morgens aufstehen, die U-Bahn nehmen, acht Stunden im Büro, wieder nach Hause, flimmernde Gestalten im Fernsehen, die sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf entführten, und dann da capo al fine.
Vielleicht weil sie so gut in ihrem Beruf funktionierte, zuverlässig, fehlerfrei arbeitete, wurde ihr eine andere Stellung angeboten, noch dazu in der nächsten Großstadt, und sie griff zu, erleichtert. Desirée hoffte, durch diesen Schritt zu sich zu finden. Sie war eine Frau, war jung und wollte wieder am Leben teilnehmen.
Zehn Seiten las sie in ihrem Tagebuch, auf jeder stand ein Name, und diese fünf Jahre waren vielleicht die besten und abwechslungsreichsten gewesen. Sie liebte die neue Stadt, die Menschen, die auffallende Kleidung, die sie überall sah, die Lässigkeit, in der sich ihr Rundherum abspielte und das doch so voll prickelnder Lebendigkeit war, eine Mischung aus süß und sauer, aus mildem Frühlingswind und scharfem Fönsturm.
Desirée grinste. In dieser Zeit hatte sie den Unterschied zwischen Rechts- und Linksträgern kennen gelernt. Es war zu einer Sucht, fast zu einem Vabanquespiel geworden. Richtig, angefangen hatte es bei Bernd, jenem unscheinbaren Buchhalter aus ihrer Abteilung, der aber ungemein sensible Hände hatte, seine beginnende Glatze sorgfältig mit den quer gelegten Haarsträhnen bedeckte, und der Unmengen von Alkohol zu vertragen schien. Jener hatte sie nach einem quälenden Betriebsfest von den Fähigkeiten eines Rechtsträgers überzeugt. Am nächsten Morgen sahen sie sich kurz an und wussten, dass es kein zweites Mal geben würde. Doch in Desirée war der Jagdinstinkt erwacht.
Es gab viele Lokale in der Stadt, in denen sie auf die Pirsch gehen konnte. Und sie entwickelte ein schnell und sicher funktionierendes System. Ein tief ausgeschnittenes Kleid, ein wenig zu viel Make-up, manchmal sogar diese alberne Zigarettenspitze mit einer grünen oder lila Zigarette darin, ein laszives Flattern mit den getuschten und angeklebten Wimpern, und Pawlov hätte seine helle Freude an ihren Experimenten gehabt. War sich Desirée nicht sicher, so weitete sie ihren Test aus, rückte näher, begann ein Gespräch, einen kleinen Flirt, bei dem sie dann – natürlich rein zufällig - mit ihrer Hand den Versuch abschließen konnte.
Eine Zeitlang machte es ungeheuren Spaß, bis sie Knut traf, zwar Linksträger, aber er war so verdammt charmant, Havariekommissar, was bedeutete, dass er untersuchte, warum es bei einem Schiff zu einem Crash gekommen war, und außerdem ein richtiger Literat.
Desirée sprang auf. Irgendwo musste sie noch seine Briefe haben, die er ihr aus allen Häfen der Welt geschrieben hatte und die sie verzauberten.
In der untersten Schublade ihres Schreibtischs lagen sie, sorgfältig mit einem grünen Band zusammengehalten. Grün war seine Lieblingsfarbe gewesen.
„Donja, du Königin der Fischerinnen, du hast mein Boot in den sicheren Hafen gefahren.“ Das hatte er nach der ersten Nacht geschrieben. Na ja, bei dem Beruf hätte er auch kaum etwas über Liebe in den Wolken gesagt oder über einstürzende Neubauten nach ihrem ersten Kuss. Mit Knut war sie zwei Jahre zusammen gewesen, ein äußerst passendes Arrangement. Knut war oft mehrere Wochen weg, rief sie ständig an, sandte Faxe, schickte Blumen aus allen Ecken der Erde, und wenn er kam, dann ging regelmäßig die Titanic unter. Bis er eines Tages oder nachts einen dummen, seiner angeblichen Intelligenz widersprechenden Fehler machte und sich als ein linker Geheimnisträger entpuppte.
„Babe, meine Nymphe, geliebte Nixe“, hatte er geflüstert, seit einer halben Stunde war er bei ihr vor Anker gegangen und sie mit seinen schon fast quälenden Stößen ihres Atems beraubt. „Wenn meine Frau nicht wäre, so würde ich dich heiraten.“
Und als dieser Satz heraus war, den ihr noch kein Mann gesagt hatte, war er in einem tiefen Seufzer gekommen, und Desirée holte tief Luft, richtete sich auf und fragte, Angst habend vor der Konsequenz und sich so deutlich seiner Unverschämtheit bewusst:
„Hältst du das für eine gute Idee?“
„Natürlich, und wenn meine Frau in die Scheidung einwilligt, ist alles kein Problem mehr.“
„Für dich vielleicht nicht, aber für mich schon.“
Knut hatte sie angesehen, ein Blick voller Fragezeichen und Anker, die bei Desirée nicht mehr verfingen.
Als er gegangen war, sagte Desirée das laut, was sie vorhin verschwiegen hatte, aus Enttäuschung, Wut oder der Unlust vor einer Auseinandersetzung.
„Du bist ein linkstragender Lügner, lustig liebend, und wenn ich dich beim Wort genommen hätte, hättest du genauso listig gelispelt, du bräuchtest nur ein wenig Zeit, bis deine Frau und so weiter und so fort. Und dann wärest du gegangen, heilfroh, dass ich nicht Ja gesagt habe.“
Ein Jahr später hatte ihr Knut tatsächlich eine Geburtsanzeige von Jonas, seinem Sohn, gesandt. Na gut, der Fischer blieb bei seinen Namen.
Desirée legte das Buch beiseite. Sie spürte Tränen in ihren Augen, doch über die Vergangenheit zu weinen war, als wolle man mit einem kaputten Staubsauger die Wohnung reinigen. Sie holte sich ein Glas Sprudel und trank durstig. Und als sie schluckte, fiel ihr ein anderer Träger ein. Holger, der Wasserträger, der ... Ja, was war mit ihm gewesen? Er war nicht verheiratet, ein wenig jünger als sie, hatte die verkehrten Hosen an, da sie manchmal links und rechts fand, bis sie entdeckte, dass er bisexuell war und nicht wusste, ob er ihr, Desirée, seiner geliebten Orchidee, oder lieber Lars, seinem wissbegierigen Schüler, den Vorzug geben sollte. Desirée nahm ihm die Entscheidung ab. Und sie hatte Recht getan. Holger und Lars wurden ein glückliches Paar.
Und ihr waren noch ein paar Träger über den Weg gelaufen: Ein Anzugträger, ein Krawattenträger, beide hauptberuflich Nadelstreifenträger, die in jedem Lokal mit dem portierbewehrten Eintritt die Jahrgänge der Weine wie das Alphabet heruntersagen konnten. Bei diesen Dates war Desirée nach und nach zu einigen Schmuckstücken und Kleidungsstücken gekommen. Ablassbildchen für das schlechte Gewissen, nannte Desirée diese Aufmerksamkeiten nach einem Abend oder einer ganzen Nacht. Diese Träger hatten auf ihrer Suche genau das bekommen, was sie gesucht hatten, und Desirée hatte mit fairer Münze bezahlt.
In den letzten Jahren hatten die Handyträger überhand genommen, die nicht wegzudenken waren von den Laptopträgern, wobei zwischen beiden eigentlich kein Unterschied bestand. Noch bevor eine Hose fallen konnte, war ein Blick auf das Handy vonnöten, das wiederum entweder eine brandeilige SMS aufwies oder nach dem WAP in dem kleinen Aktenkoffer verlangte, der zu einem Computer mutiert war. Desirée hatte einfach keine Lust, sich mit diesem technischen Schnickschnack auseinander zu setzen, irgendwann hatte sie gelernt, was SM war, SMS konnte daher eine etwas ausgefallenere Art jener Spielart sein, bei der noch ein wenig Sex angehängt wurde oder nicht. Und danach kam nach einer langen, leeren Pause plötzlich ein Bedenkenträger, der in keine ihrer Schubladen passte.
Das Tagebuch fiel zu Boden, und von dem Geräusch aufgeweckt, stand Desirée auf. Es war nicht gut, in der Vergangenheit zu kramen, sich an etwas zu erinnern, was vorbei war. Dennoch musste sie diese Seite lesen, bevor sie ins Bett ging.
Jenen Alex hatte sie angemacht, und er war ihr ausgewichen. Nein, er war nicht verheiratet, hatte, da er in ihrem Alter war, erstaunlicherweise, keine Frau oder Freundin, war nicht geschieden, sah gut aus und konnte denken. Wo waren die Leichen im Keller, fragte sich Desirée, als sie über seinen Oberschenkel strich, unter dessen Haut sie ebenmäßige Muskelstränge spürte. Sie schmiegte sich an seinen Bauch, lauschte seinem gleichmäßigen Atem und verfiel in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte sie durch den Duft frischen Kaffees und leicht verkohlten Toasts. Der Tisch in ihrer winzigen Küche war gedeckt. Eine leicht verblühte Blume lag auf ihrem Teller. Alex hatte sie von ihrem Balkonkasten genommen. Doch die Geste rührte sie.
„Gut geschlafen?“, fragte sie, verlegen wie noch nie in ihrem Leben.
„O ja“, antwortete Alex und strich Butter auf den Toast.
Alex aß den Toast nicht, er trank auch den Kaffee nicht, Er starrte sie eine Weile an, und als er in der Tür stand, angezogen, zuckte er einmal hilflos mit den Achseln und sagte mit fast unhörbarer Stimme:
„Ich muss es noch einmal bedenken.“
Desirée verwüstete ihre Wohnung, meldete sich fünf Tage krank, und als sie aufwachte, vollendete sie das letzte Kapitel in ihrem Tagebuch.
Und jetzt saß sie da, mit ihren Erinnerungen, die sie gelesen hatte, und dachte an den Datenträger, den sie vor einigen Stunden verlassen hatte.
Nichts war anders geworden. Die Männer nicht, die Frauen nicht, die Unterschiede waren gleich groß geblieben, nur die Zeit hatte sich verändert. Sie war einfach vergangen. Still und unbemerkt.

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