Aber ich brachte es nicht fertig, ihn zum Bus zu bringen, der ihn in die Kreisstadt fahren würde. Als die Haustür hinter ihm in das Schloss fiel, konnte ich die lange unterdrückten Tränen nicht halten. Musste ich mich noch einmal in einen Feldgrauen verlieben? Was, wenn sich 1940 wiederholte?
Vier Wochen später wusste ich, was sich wiederholte! Meine Periode blieb aus, unser munteres Treiben war nicht folgenlos geblieben! Im Februar 43, mein Bauch war schon lange nicht mehr zu übersehen, heirateten wir. Per Ferntrauung. Eine andere Möglichkeit hatten wir nicht.
Im folgenden Sommer 43 haben wir einige unbeschwerte Wochen miteinander verbracht. Er war glücklich, drei Monate nach der Geburt seinen Sohn in den Armen halten zu dürfen. Der Abschied fiel mir dieses Mal noch unendlich schwerer als im Vorjahr.
1944 war er gar nicht da. Im letzten Moment wurde der genehmigte Urlaub wieder zurückgezogen. Die Front brach gerade mal wieder zusammen. Urlaubssperre!
Und dann, im bitterkalten Januar 1945, mussten wir unser Dorf verlassen. In langen Kolonnen zogen alle Dorfbewohner, Frauen, Kinder und ältere Männer aus allen Dörfern unserer Gegend Richtung Danzig. In Gotenhafen sollten wir eingeschifft werden. Nach Rostock, Lübeck oder Kiel …, das hatten wir zumindest irgendwo aufgeschnappt.
Von Karl hatte ich schon Wochen nichts mehr gehört, kein Feldpostbrief, nicht mal eine Feldpostkarte. Ich befürchtete das Schlimmste.
Aber dann staunte ich nicht schlecht, als ich mit meinen beiden Jungs an Bord eines in stumpfem grau gestrichenen Frachters namens „Langeoog“ gehen sollte!
Wer versuchte denn da, die Tumulte vor der Rampe zu entwirren? Karl! Noch hagerer als sonst, unrasiert, offenbar seit Tagen nicht aus seinen Klamotten gekommen.
Wir lagen uns in den Armen, kurz, denn um uns brandete der Tumult der Flüchtenden. Karl begrüßte seine Jungs, hob sie hoch, drückte sie. Dann musste er sich wieder dem Inferno schreiender Kinder, schimpfender Mütter, und kurze Kommandos bellender Vorgesetzter zuwenden.
Er sagte nur noch: „Ich kann hier nicht weg, muss mit den Resten meiner Einheit hier noch ein paar Tage Dienst tun, dann werden wir eingeschifft nach Westen. Seht zu, dass ihr in der Nähe von Altengrabow bei Magdeburg unterkommt. Auf dem Truppenübungsplatz dort soll unsere Division neu aufgestellt werden.“
Unbarmherzig wurde ich von der Masse weiter aufs Schiff gedrückt, den ältesten an der Hand, den jüngeren auf dem Arm. Unsere Unterhaltung war damit zu Ende. Als ich vom Schiff zurückblickte, konnte ich ihn fast nicht mehr ausmachen in dem Trubel. Ich hatte schon wieder Tränen in den Augen.
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Wir hatten es tatsächlich nach Altengrabow bei Mageburg geschafft. Nach etwa 10 Tagen trafen auch die Reste von Karls Einheit dort ein. Erwartungsfroh ging ich am nächsten Tag zum Eingangstor des Lagers.
Der Posten hörte sich mein Begehr an und verwies mich an das Stabsgebäude rechts vom Exerzierplatz. Dort traf ich auf einen Offizier der Einheit. Er saß in der Schreibstube. Der linke Ärmel baumelt schlaff an seiner Feldbluse, im unteren Bereich mit einer Sicherheitsnadel am Kleidungsstück fixiert.
Als er mich sah, stand er auf: „Sie entschuldigen bitte, wenn ich ihnen den Deutschen Gruß schuldig bleibe“, sagte er und schaute dabei dahin, wo mal ein Arm gewesen war. Er klang sarkastisch.
Auch ihm berichtete ich, dass ich die Frau von Karl sei, II. Bataillon, 8. Kompanie.
Als er so vor mir stand, schaute er mich mit traurigen, müden Augen an.
„Karl hat es nicht geschafft. Tiefflieger während des Einschiffens. Er war sofort tot. Es tut mir sehr leid.“
Und dann nach kurzem Schweigen, „den Spruch, dass er für ‚Führer und Vaterland gefallen‘ ist, erspare ich uns, wenn Sie erlauben …“
Von der Mannwerdung
Margot – Eine Geschichte unter vielen in ihrer Zeit – Teil 2
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