Vor der Tür zum Behandlungszimmer

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Vor der Tür zum Behandlungszimmer

Vor der Tür zum Behandlungszimmer

Stefanie A. Drissen

"Frau Dr. Mai, kommen Sie bitte durch." Dort, vor den zwei Türen, die zu den Behandlungszimmern führten, saß sie wieder neben der Frau, die ihr schon im Wartezimmer aufgefallen war. Auch jetzt fummelte sie so nervös am Ohr herum. Von der Seite aus beobachtete Frau Werner die ältere Dame. Sie ist elegant gekleidet, fast modisch. Sie trägt ein schwarzes Kleid, beinahe ein kleines Schwarzes, so schick wirkt es; vielleicht ein wenig zu kostbar für diese Umgebung hier des Wartezimmer, mit einem weißen, großen Kragen, der sich glatt um den gefältelten Hals legt.
Wieder prockelte sie im rechten Ohr, neigte den Kopf, schüttelte ihn hin und her. Dann nahm sie eine Illustrierte, schlug sie auf und versuchte zu lesen. Doch nach wenigen Sekunden ging das Spielchen wieder los. Sie ließ die Lektüre wieder fallen, fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den Gehörgang, rührte darin herum, schüttelte wohl den Kopf.
Frau W. wurde nervös. Wegsetzen kann sie sich nicht. Da wagt sie es, die neben ihr sitzende Dame anzusprechen:
Fr. Mai: "Haben Sie auch so Ohrgeräusche, so einen Tinnitus oder wie heißt das?"
Frau Lange: Ach, ja, da wird man verrückt. Das zischt und tutet und pustet und sirrt da im Kopf herum.
Fr. Mai: Das ist - mein Gott - das ist wohl eine arge Plage im Kopf. Man müßte sie zu den biblischen Plagen rechnen. Luther soll ja auch so ein teufliches Ohr gehabt haben.
Fr. Lange: Ach und wie! Das hab ich schon seit acht Jahren. Manchmal kann ich es mit Schmerzmitteln etwas beruhigen. Jetzt habe ich von einer Freundin gehört, daß es ein Mittel gibt, das ist ein Psychopharmakon. Aber das ist mir egal. Das soll helfen. Was hilft, hat Recht. Da muß ich doch meinen Doktor fragen, warum er mir das noch nicht verschrieben hat."
Sie machte eine kleine Pause. Sie rieb sich ihre Ohrmuschel.
"Schon als Sechzehnjährige, da - nachdem ich die Schule verlassen hatte - sehen Sie da drüben das Gymnasium - da bin ich nach der Mittleren Reife abgegangen - nach meinem ersten Tanzschulball, am Tag danach, habe ich schon ein Brummen im Ohr gehabt. Das ist dann jahrelang weg gewesen."
"Frau Schulze, Sie können rein zum Herrn Doktor."
"Ach, Mädchen, nehmen Sie mal jemand anders vor. Ich unterhalte mich grade ein bißchen so schön. - Aber seit ich alleine sitze, so den ganzen Tag, da lärmt es mir im Ohr. Da stehe ich manchmal auf und tanze im Zimmer herum zu lauter Musik. Das wirkt dann für kurze Zeit. Oder ich geh' auf den Balkon. Sehen Sie das, ja? Da draußen. Kennen Sie sich hier aus in der City? Da ist ja das Gymnasium, das Haus mit dem riesigen Dach da im Schnee. Dann ist das da die Alte Kirche. Ja, da, den Helm können Sie gut sehen. Links vor dem kleinen Museum, da wohne ich. Wo da der Schnee auf dem Dach weggeschmolzen ist. Als Mädchen, wissen Sie, da war noch der alte Propst im Pfarrhaus. Der hat lange regiert. Und der herrschte mal so eben, von Kanzel und vom Katheter aus. Der fuhr so gerne auf seinem Fahrrad herum. Ein großer, stolzer Mann! Aus altem westfälischem Geschlecht. Eine Recke von fast 2 m!
- Ach, den kennen Sie?
- Sehen Sie, zu dem in den Gottesdienst mußte ich immer von meinen Eltern aus. Jeden Tag in die Kirche! Da war ich auch immer fromm! Und sonntags zusätzlich zur Messer in die Christenlehre. (Sie wiederholt sich; immer im Ohr prockelnd!) Und in die Frühmesse am Werktag. Meßdiener konnte ich ja leider nicht werden. Hab ich früher immer gedacht. Jeden Sonntag um halb zwölf! Und als junge Frau dann erst. Stillgestanden, ihr schwachen Geister! Und Weihnachten drei Messen! Das war wie nix! Auch wenn wir uns auf Weihnachtsgeschenke freuten. Egal. Dreimal Singsang! Und alles in Wohlgefallen und Weihrauch."
Noch einmal streichelt sie, in aller Ruhe, ihr Ohr.
"Und wie streng der Propst war! Schon knapp ein Jahr nach meiner Heirat, da fragte mich doch der Propst in der Beichte: 'Ist denn schon was Kleines unterwegs?' Und beim nächsten Mal, da wurde er noch neugieriger: 'Mädchen, bist du noch nicht gesegneten Leibes.'"
Sie war spürbar ruhiger geworden. Ihr Ohr ließ sie jetzt in Ruhe. Sie neigte den Kopf zu der neben ihr Sitzenden.
"Da fragte der mich doch im Beichtstuhl: 'Warum ist denn da noch nichts Kleines unterwegs? Wie macht ihr das denn? Macht dein Mann denn das da auch richtig. Im Ehebett? Das Gott im Paradies schon geadelt hat! Mit Fruchtbarkeit! Oder verhütet der da?’ - Du, und ich wußte doch nie, was Verhütung war. Ich hatte nix und kannte da nix von! Und Hanselmann - der sagte mir auch nix! Da bleiben die Weiber am ehesten handzahm.“
„Und kuschelig!“
„Und frau hat dann die Bauschmerzen!“
„Auch ohne PMS-“
„Wassen das?“
„Prämenstruelles Syndrom. - So was erfinden die Pillenverschreiber.“
„Komm, wir schleichen uns davon! So gut, kann ich mich nicht mit dem Arzt unterhalten.“
„Ich glaub, wir brauchen diese Ärzte nicht. - Hab ich mir schon oft gedacht! Und dann schlich ich immer wieder zum Onkel Doktor!“
„Und dann gab’s Tabletten vom lieben Doktorchen.“
„Und mein Mann wieder bester Laune. Schaltet den Fernseher. Trank sich zwei, drei Fläschchen. Und dann, wenn er mich ins Bett locken wollte: ‘Siehste, is ja alles gut! Du bist krank! Gott sei’s geklagt! Nerven! Scheiße. Haben ja alle Frauen. Oder sie stinken einmal im Monat.’“
„Und dann prockeln und torkeln sie einem wieder in der Scheide rum! Zehneinhalbmal rein und raus. Und das kannst du dich wieder abwischen.“
„Du bist aber drastisch.“
„Gehst dir besser?“
„Jaja, und so weiter!“
„Los! Ab! - Ich schlag vor: Ins Café Diabola.“
„Wo issen das?“
„Bei den Weibern.“
„Den Verrückten?“
„Ode willze lieba zum Pastoa?“
„Ne, der prockelt auch nur rum in deinem Geschlecht. Danke! De würde mich noch - na, Schwamm drüber. Sind ja auch nur arme Wichser.“

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