Die Weinbergschnecke

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Die Weinbergschnecke

Die Weinbergschnecke

Peter Hu

Jochen war schon seit drei Monaten mit seinem alten Reisebus unterwegs, und hatte sich recht gemütlich darin eingerichtet. Doch der Diesel aus den Sechzigern war nicht gerade sparsam. Zwar hatte er zwei Jahre für diese Reise gespart, und alle überflüssigen Besitztümer verkauft, aber es war langsam an der Zeit, dass er seine Tourkasse wieder einmal auffüllte. Der Herbst zeigte bereits seine ersten braunen Blätter. Das störte unseren Weltenbummler aber kaum. Denn die Winde in Frankreichs Süden waren noch mild, und die beginnende Weinlese versprach nicht nur ein volles Portomornai, sondern auch neue Bekanntschaften. Gut gelaunt lenkte er seinen schnaufenden Büssing also durch die engen Serpentinen zum abgelegenen Weingut hinauf. Er genoss die Strahlen der roten Abendsonne, die ihn durch die Vollverglasung des großzügigen Panoramadaches wärmte. …Nein, der junge Maschinenbauer verspürte keine Reue, als er dem alten, vierschrötigen Weinbauern die ledrige Hand schüttelte. Daheim hätte der gefragte Ingenieur zwar ein Vielfaches verdient. Dennoch hatte er seine Wahl getroffen. Frische Luft und körperliche Arbeit lagen ihm doch deutlich mehr. Vor allen Dingen liebte er aber seine neu gewonnene Freiheit. Erst jetzt wusste er, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Der Bauer wies ihm einen schattigen Parkplatz im verwilderten Obstgarten zu, und Jochen freute sich auf den Morgen. Die wenigen Zelte, die hier bereits aufgebaut waren, beachtete er kaum. Der Weltenbummler war zu müde um die neuen Kollegen zu begrüßen. Er würde sie ohnehin morgen auf dem Weg in den Weinberg kennen lernen. Unser Entdecker öffnete die große Truhe im Heck seiner rollenden Wohnung, holte die leichte Decke und ein Buch heraus, und machte es sich im Schein der Leseleuchte gemütlich. Er schaffte es gerade bis zur siebten Seite, als ihm zufrieden die Augen zufielen…

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