Die Internet-Gewohnte hatte von allem Anfang an grösste Mühe, sich ohne die gewohnten Medien durch den Tag zu bewegen, obwohl sie kaum eine freie Minute gehabt hätte, um einen Laptop anzuwerfen und Mails zu lesen. Ohnehin kam ihr das Gewimmel und Gewusel der „digital natives“, zu denen sie sich ja auch zählte, absurd vor. Hier oben, mitten in kräftigen Kräutlein und beseelt von würzigem Käse, war das Internet im Grunde überflüssig. Die Essenz des Lebens war anderswo zu suchen als in entseelter sms-Kommunikation.
Um den Anschluss an die Welt dennoch nicht ganz zu verlieren, liess sie sich vier Kilometer von ihrer Hütte entfernt, auf halber Anhöhe zum Dorf, die Wochenzeitung bringen, und zwar vom Postboten. Er machte die Strecke nur, weil es in der Nähe einen einsamen Bauernhof gab, und die zehnköpfige Familie mit den zwei behinderten Kindern kriegte ab und an reguläre Briefe. Für Wilma gab es einen Metallkasten, der an einer Tanne festgeschraubt war. Der Kasten sah so aus wie die Mailboxes in den Donald Duck Comics. Halb rund und meistens halb leer.
Das Kuvert mit den Sennentuntschi-Textschnipseln fühlte sich seltsam schwer an. Wilma hatte im Dorf die nötigsten Einkäufe getätigt und im Vorbeigehen das Kuvert und ihre Zeitung aus dem Metallkasten gezogen. Atemlos erreichte sie die kleine Anhöhe, auf dem der Stall stand – und die kleine Scheune, in der sie wohnte. Im Grunde konnte von Wohnen keine Rede sein. Wilma hauste da, mit ihren wenigen Habseligkeiten, und ihr ganzes Sommerleben widmete sie den Kühen und Ziegen.
Sie hatte Süssmost, Seife, Toilettenpapier, Tampons, Honig, Schokolade und dunkles Brot mit dabei, alles Dinge, die ihren Rucksack schwer machten und ihre Kondition herausforderten. Das Schwerste aber war das Kuvert, das sie in der Hand hielt. Wilma hatte grösste Mühe, ihre Neugier zu bändigen und sich nicht etwa auf einen Felsvorsprung zu setzen, den Brief aufzureissen und zu lesen.
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