Yessica

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Yessica

Yessica

Yupag Chinasky

Yessica war sozialistisch erzogen, eine Aktivistin, manchmal sogar eine richtige Bolschewikin, dachte er, obwohl sie die Versuchungen und Annehmlichkeiten des Kapitalismus durchaus schätze und ihr Lebenstraum darin bestand, einen reichen Ami zu heiraten, zur Not auch einen Europäer, um in die USA auszuwandern und dort ein reiches, sorgloses Leben zu führen. Sie diskutierten heftig über den Krieg. Seine Haltung war klar, eindeutig und einseitig, sie muss hier nicht dargelegt werden. Auch Yessicas Haltung war eindeutig. Sie war beileibe nicht dumm und hatte eine gute Schulbildung genossen, dafür ist Kuba schließlich berühmt, aber Yessica glaubte bedingungslos ihrer Regierung und war überzeugt, dass die Russen im Recht waren. Der Streit zwischen ihnen war vorprogrammiert, der Krieg hatte sich nun bis in das kleine Zimmer des schäbigen Hotels ausgedehnt.

Ihre Gefechte bestanden in endlosen Diskussionen, Anfeindungen und Verdächtigungen, die keine Zeit mehr für ein erfülltes Liebesleben zuließen. Man hätte den Streit nicht so ernst nehmen müssen, wenn Yessica nicht zu dem Schluss gelangt wäre, dass sie mit einem solchen Reaktionär nicht mehr ins Bett gehen könne. Doch der wahre Grund war, dass sein Kreditrahmen bei Visa erschöpft war und in seiner Geldbörse Ebbe herrschte. Aber das Dilemma betraf jetzt nur noch ihn, denn Yessica hatte ihre wichtigsten Ziele schon erreicht und mehr „Liebe“ musste sie nicht mehr verschwenden. Ihr letzter Angriff war kein Angriff, sondern ein Rückzug. Sie teilte ihm mit, dass ihr kleiner Sohn schwer erkrankt sei und dringend seine Mutter brauche. Von einem Sohn war bisher nie die Rede gewesen. Sie packte ihre Sachen zusammen, es waren viele Tüten, gab ihm noch einen Abschiedskuss und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Sie ließ einen Geschlagenen zurück, der nicht nur eine persönliche, emotionale Katastrophe verkraften musste, nein, auch die große Weltpolitik sollte ihm noch sehr zu schaffen machen, er wusste es nur noch nicht. Die Krise sollte sich bald dramatisch ausweiten, die Russen, obwohl das Wort im Land verboten war, sollten der Ukraine offiziell den Krieg erklären und als Folge sollten die westlichen Verbündeten das tun, was treue Verbündete tun müssen. Und er sollte immer noch in dem verdammten Hotel sitzen, fast ohne Geld, ohne Internet, das gesperrt war und ohne Aussicht das Land zu verlassen, denn auch alle internationalen Flüge würde man bald einstellen. Und als Gipfel der Unannehmlichkeiten würde man ihn, als Bürger eines Landes, das nun der Feind des Brudervolkes war, auch als Feind betrachten. Die Zeiten würden verdammt schwer werden und seine Zukunft auf der Zuckerinsel bitter und rabenschwarz.

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