Yvonne war meine langjährige Brieffreundin. Sie lebt wohl noch immer in ihrer kleinen Wohnung in der Nähe vom Prenzlauer Berg, das ist mir aber mittlerweile egal, wenn ich ehrlich sein darf. Mein damaliger Freund Tim hatte die gute Idee, Yvonne mal zu uns in die Schweiz einzuladen – „reine Brieffreundschaften, das ist doch echt öd“ – so pflegte er sich auszudrücken. Yvonne war begeistert. Ich bezahlte ihr sogar die Bahnfahrt zu uns nach Schwarzenburg und holte sie am Berner Bahnhof ab. Mit fliegenden Haaren rannte sie auf mich zu – Yvonne erkannte mich wohl vom Photo, das ich ihr kurz zuvor gemailt hatte.
Das erste, was mir an ihr auffiel, waren ihre wasserklaren blauen Augen, die auf interessante Weise mit ihrem langen roten Haar kontrastierten. Sie war auffallend zartgliedrig und in einen dicken, warmen Mantel gehüllt – kein Wunder: Es war mitten im Januar und sowohl in Berlin als auch hier in Bern schweinekalt. Wie ein Wasserfall sprudelte sie los, erzählte von der fröhlichen Bahnfahrt und ihrem Leben während der letzten Tage. Aus ihren Briefen und Mails kannte ich Yvonne ja schon recht gut – so spontan und überschäumend von Lebensfreude hatte ich sie mir aber nicht vorgestellt. Tim ist ein wunderbarer Koch – und er verwöhnte uns an diesem Abend mit einem köstlichen Filet, Reis und einem vielfältigen Salat. Den Tisch hatte er wunderschön gedeckt; auch Kerzen fehlten nicht.
An Yvonne konnte er sich kaum satt sehen. Er war Berufsfotograf, und mir war schon zu Anfang unserer Beziehung aufgefallen, dass er Frauen auf eine Weise einsog, die mir als Freundin keineswegs behagen konnte. „Künstlerblick“, redete er sich jeweils heraus – und an jenem Abend bedachte er Yvonne fortwährend mit „Künstlerblicken“. Ihr schien das nichts auszumachen – sie zupfte ihren Pulli zurecht, fuhr sich durchs Haar, scherzte und lachte. Sie faszinierte nicht nur Tim. Die Frau war aussergewöhnlich.
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