„Ebenfalls!“ rief die jüngere mit einem Anflug von Verlegenheit und sprang aus dem Wohnwagen.
Teresa eilte durch die fast menschenleeren Rummelplatzgassen. Leichtfüßig wich sie den Pfützen aus, die sich während des nächtlichen Gewitters gebildet und in der gleisenden Sonne bereits wieder zu dampfen begonnen hatten. Nach wenigen Minuten hatte sie den Kristallpalast erreicht. Seine bunt bemalte Fassade türmte sich zu einem riesenhaften Diamanten auf, dessen verspiegelte Elemente das Sonnenlicht tausendfach streuten. Die Anweisungen befolgend, die Raul ihr per SMS übermittelt hatte, zwängte sie sich am Kassenhäuschen vorbei und schwang sich über die Balustrade. Sie trat durch das Drehkreuz, das er für sie entriegelt hatte, und tauchte ein in die magische Welt der tausend Spiegel.
Als erstes nahm sie den flüchtigen Geruch eines Glasreinigers wahr. Raul musste die Spiegel vor ihrer Ankunft von allen fettigen und klebrigen Hand- und Fingerabdrücken der letzten Besucher gereinigt haben. Obwohl Teresa den Palast schon öfter besucht hatte, setzte sie behutsam einen Fuß vor den anderen, um die Orientierung nicht zu verlieren. Zunächst konfrontierten große, in verschiedenen Winkeln angebrachte Spiegel Teresa mit einer verwirrenden Vielzahl ihrer Ebenbilder. Sieh sah sich von der Seite, von schräg vorne oder von schräg hinten. Parallel angebrachte Spiegel projizierten eine scheinbar unendliche Zahl von imaginären Teresa-Klonen. Blickte sie nach oben, schien es, als sähe sie in Wirklichkeit auf sich selbst herab. Umgeben von ihren zahllosen Abbildern, die sich zudem gegenläufig und antiparallel bewegten, fiel ihr die Orientierung zunehmend schwerer. Mit jedem Meter, den sie vorsichtig weiter in das Innere des gläsernen Irrgartens vordrang, änderte sich die Form und Größe der Spiegel. Drei-, vier- und mehreckige Spiegelfacetten unterschiedlicher Größe waren asymmetrisch und in verschiedenen Winkeln zu einem riesenhaften kristallinen Gang aneinandergefügt und erzeugten ein ungeordnetes, sinnverwirrendes Kaleidoskop aus unzähligen Körperteilen, die sich dem überwältigten Auge zudem aus den ungewöhnlichsten Blickwinkeln präsentierten.
Teresa zuckte erschreckt zusammen, als unvermittelt die Beleuchtung erlosch. Sie rührte sich nicht von der Stelle und bemühte sich, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Langsam nahm sie den diffusen Schein wahr, der von den Hunderten von Spiegeln verbreitet wurde.
„Raul?“ rief sie halblaut in die halbdunkle Stille hinein.
„Folge einfach dem Lichtschein!“ hörte sie seine Stimme, die von irgendwoher an ihre Ohren drang.
Zögernd bewegte Teresa sich eine verwinkelte Rampe hinauf. Plötzlich tauchten in einigen Spiegeln kleine, flackernde Lichtpünktchen auf, die sich bei näherem Hinsehen als Kerzenflämmchen erwiesen. Mit jedem Schritt wurden es mehr und bald erfüllte ihr durch hundertfache Reflexion vermehrtes Licht das spiegelnde Labyrinth und ein angenehmer Duft nach Vanille verdrängte den profanen Geruch des Reinigungsmittels. Erwartungsvoll stieg das Mädchen einige Stufen aus Spiegelglas hinauf – und stand vor der phantastischsten Liebesgrotte, die man sich vorstellen konnte. In der Mitte des Kristallpalastes brannten etliche, um die kleine zentrale Fläche verteilte Aroma-Teelichte. Über den Boden waren kuschelige, mit Isoliermatten unterlegte Schaffelle ausgebreitet. Schlummerrollen aus dem Wohnwagen von Rauls Eltern luden zum bequemen Liegen ein.
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