Sehen
Aus den Predigten des Stadtstreichers E. aus G. – Epilog
(gleich nach seiner letzten Predigt)
In der Stille der Heiligen Nacht,
eines vierundzwanzigsten Dezembers,
war ein wohlhabender, alleinstehender Devisenmakler
auf dem Weg zu einem Bordell
und stolperte so unglücklich
über einen auf der Straße liegenden Menschen –
einen Menschen,
den er sofort als einen angetrunkenen Obdachlosen ansah –,
daß beide für einen langen Moment
benommen am Boden lagen.
Ihre Gesichter waren sich dabei sehr nahe gekommen,
denn der Devisenmakler
bekam den üblen Atem des anderen
stark zu riechen.
Während der Angetrunkene daraufhin lächelte
und sich in eine sitzende Position aufrichtete,
fluchte der Devisenmakler wild auf ihn los
und ließ dabei die wüstesten Verwünschungen
und Beleidigungen hören.
Er lehnte sich sitzend an einer Hauswand,
weil sein Fuß stark schmerzte.
So saß er dem Angetrunkenen gegenüber,
der gestützt an einer Laterne,
ihn weiter anlächelte.
„Fröhliche Weihnachten!“
sagte der Angetrunkene,
zog eine Rotweinflasche
aus seiner großen Manteltasche,
die den Sturz überstanden hatte,
winkte dem Devisenmakler damit zu
und fuhr laut und eindringlich fort, zu reden:
„Fluchen Sie nicht so,
alles geschieht nach Gottes Willen –,
da ist nichts zu machen!
Und ein Fluch kann auch nur durch Gott geschehen,
nur Gott kann ein Fluch aussenden,
der zu einer Ausführung gelangt.
Der Mensch vermag das nicht.
Und was hat Gott nicht alles
für große Flüche über die Menschheit gebracht –,
und was hat es geholfen?
Nichts!
Der größte Fluch der Menschheit
war aber nicht die Vertreibung aus dem Paradies gewesen.
Der größte Fluch,
den die Menschheit getroffen hat,
ist der,
daß sie sich nicht verstehen.
War es seit der Zerstörung des Turmbaus zu Babel?
Es kam dort nicht nur Sprachunverständnis
und Sprachverwirrung über die Menschen.
Nein!
Die Menschen sprechen seither nicht nur
die verschiedensten Sprachen,
sondern sie können sich auch sonst nicht verstehen.
Ob die Menschen im Guten oder im Schlechten
miteinander umgehen –
ob sie Gutes oder Böses wollen,
oder tun –,
sie sind nicht imstande,
sich so zu verstehen,
um sich auf Dauer gegenseitig glücklich zu machen.
Im Kleinen wie im Großen.
Der Mann versteht die Frau
in ihrem Frausein nicht,
und die Frau versteht den Mann
in seinem Mannsein nicht.
Das Kind versteht die Erwachsenen nicht,
der Erwachsene versteht den Greis nicht.
Aber welch ein Unverständnis herrscht
über all die anderen,
so herrlichen Unterschiede zwischen den Menschen,
die sich dadurch so schön bereichern könnten... –,
würden sie sich nur verstehen!
Verstehen Sie mich?“