Sehen
Aus den Predigten des Stadtstreichers E. aus G. – Fünfte Predigt
Von einem Donnerstag, 21. Dezember
(wieder naßkalt, gegen Mittag)
Grundgütiger!
Was ein einzelner Tag nicht alles
von einem abverlangt.
Der Tag selbst ist es nicht,
das kann ich euch sagen,
und ich will auch nicht um Begrifflichkeiten streiten.
Das sind Kleinigkeiten.
Ich sage:
Alltagsbewältigungshürden nehmen müssen!
Ich bin da jetzt fein raus.
Das alles war mal.
Montag bis Freitag
Arbeit Arbeit
Streß Streß
Kinder Kinder
Familie Familie
Frau Frau.
Frau?
Was hätte die wohl noch...?
Das Wochenende vergeht jedenfalls wie nix,
und kaum ist was dabei,
was persönlich befriedigt,
außer Fußball vielleicht.
Kunst?
Was ist mit der Kunst,
die uns doch alle so adeln soll,
uns zerstreuen
und was weiß ich?
Die Kunst könnte es sein,
die euch den Alltag ertragen läßt.
Die Kunst und die Liebe.
Ach die Liebe... –
Natürlich, die Liebe als erste,
aber die versteckt sich allzu oft.
Scheißt was drauf.
Was bleibt dann schon?
All die verrückten Dinge,
die ihr täglich über euch ergehen lassen müßt,
einkaufen,
Geld holen,
zur Post,
das Auto in Stand halten,
tanken,
den Müll ordentlich trennen
und die Tonnen rechtzeitig rausstellen.
Und dabei fortwährend über den Tag verteilt
auf die Uhr schauen,
daß euch ja nix entgeht
von diesen Verrücktheiten!
Bleibt ihr nicht manchmal
mitten im Alltagstrubel stehen
und beobachtet die Menschen,
die ihren kleinlichen Angelegenheiten nachhetzen?
Müßt ihr dann nicht lächeln?
Wird euch dann nicht ein wenig wohl,
weil ihr seht,
ihr seid nicht allein?
Ja, seht sie euch dann einmal näher an –,
diese Menschen,
diese Leute.
Sie nehmen es genauso hin wie ihr selbst,
weil sie es nicht anders kennen,
weil es nicht anders geht,
weil es nichts anderes für sie gibt
als den grauen Alltag
mit den alltäglichen Alltagsbewältigungshürden.
Abgesehen von den schönen Sonn- und Feiertagen
und den noch schöneren Urlaubstagen.
Geschenkt.
Und was bleibt?
Was bleibt dann am Ende eines solchen Alltages übrig?
Für jeden persönlich?
Eine kleine Handvoll Zeit,
eine halbe oder Dreiviertelstunde vielleicht,
oft wohl nur ein paar Minuten.
Ja, so wie das Kleingeld,
was ihr beim Bäcker rausbekommt.
Geht also hin
und denkt nach
über diese absurden Alltäglichkeiten
mit ihren Forderungen,
und dem Gebell der Obrigkeitsmenschen,
die euch sagen,
was gut und richtig für euch ist,
was zu tun und zu lassen ist.
Geht hin
und seid ungehorsam!