Sehen

Aus den Predigten des Stadtstreichers E. aus G. – Zweite Predigt

Ferdinand Freiherr von der Ferne

Von einem Montag, 20. November
(naßkalt und regnerisch)

Hey Leute,
seid ihr auch so an Extremen interessiert?
Das ist cool.
An Extremen interessiert sein!

Extreme Gefühle!
Bis zum Gehtnichtmehr!
Bungee-Jumping,
Tatoos,
Piercing
und alle erdenklichen Sexextreme –,
vorprogrammatischer Überdruß.
Weiter nichts.
Was soll daran extrem sein?
Wie wär’s mit ausgeschlagenen Zähnen,
oder jeder fickt seinen Großvater in den Arsch?
Oder fahrt zum nahen Osten
und werdet Selbstmordattentäter!
Oh ja, total extrem!

Wenn ihr wüßtet,
wie wir beschissen worden sind!
Und die größte Scheiße für mich ist es,
daß ich es begriffen habe!
Nur was bringt’s mir ein?
Wir sind alle am Arsch –,
und weiter?
All diese verkackten idiotischen Arschlöcher
werden weiter ihren verschissenen Spaß haben,
sich gegenseitig anblöden,
bis sie schließlich selig,
im Glauben gelebt zu haben,
übersättigt den Löffel abgeben.
Und was bleibt mir?
Mitheulen?
Nein, nicht mit diesen Wölfen!
Dieses Pack.
Nein, ohne mich.
Da such ich mir schon andere.
Nein,
und ich geh auch nicht nach Indien,
um irgendwelche Nirvanas aufzusuchen.
Vielleicht ans Mittelmeer,
armen Fischern beim Netze flicken helfen,
oder nur zusehen.
Zuhören,
was sie zu sagen haben.
Möchte wetten,
dabei ist eher dahinterzukommen,
worauf es ankommt,
als von jeglichem Gesülze unserer Intelligenzen.

Und was so unter Intelligenz verstanden wird,
ist eh bloß ein anmaßender Trugschluß –,
ja doch, ich war auch mal auf ner Schule!
Ja, sogar auf ner Oberschule!
Hab dort auch ein Abitur hingekleistert,
ja, was sagt ihr jetzt, ihr Idioten?
Da staunt ihr, was?
Ist aber wahr.
Aber das hat mich nicht schlauer gemacht,
neinnein,
es hat mich regelrecht dümmer gemacht!
Aber ich bin damit zufrieden – geworden.
Ein wenig dümmer als vorher,
geistig ein wenig ärmer,
und dann auch noch ärmer an Geld…
Ja…
geistig arm…
auch irgendwie…

Darum sind mir die geistig Armen so lieb,
weil sie in Wahrheit reich sind.
Und sie sind weitaus besser dran als alle anderen.
Darum, weil sie das Ausmaß des allgemeinen Wahnsinns
nicht sehen.
Nicht, daß sie keine Ahnung hätten
von den Schlechtigkeiten dieser Welt,
nein!
Aber das Ausmaß,
dieses unermeßliche Ausmaß dessen!
Ist wohl gut, daß es so eingerichtet ist –,
daß wir im Alter wieder werden
wie die kleinen Kinder.

Oh, aber dieser furchtbare Gedanke:
Das, was nach dem Tod kommt… –
wird das denn niemals aufhören...!
Was aber, wird es wohl sein?

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