Sehen
Ballade des modernen Büro-Sisyphus
In seinem winzigen Büro sitzt Gregor,
eingezwängt zwischen Akten, die sich türmen,
graue Türme, schwer von Jahren,
Papier, das atmet, das ihn anstarrt.
Jahre hat er hier verbracht,
Formulare gefüllt, Stempel gesetzt,
jeder Strich ein Schritt,
jeder Stempel ein Traum von Aufstieg.
Die Hoffnung, ein leises Flüstern,
trägt ihn: Beförderung, ein eigenes Zimmer,
ein Fenster vielleicht, Licht,
ein Ufer, wo die Mühe endet.
Heute ist der Tag.
Der Vorgesetzte ruft,
die Tür zum Saal öffnet sich,
ein Spalt, ein Versprechen.
Gregor tritt vor,
die Luft schwer von altem Papier,
von Sieg, von etwas, das nach Zukunft riecht.
Sein Herz schlägt schneller,
ein Zipfel Glück, greifbar, nah.
Doch dann – ein dumpfer Klang,
kein Krachen, kein Drama,
nur ein leises, schweres Plumpsen.
Ein Stein fällt vom Gewölbe,
grau, kantig, ein Urteil,
das niemals vollständig wird.
Er liegt da, blockiert den Weg,
ein Hindernis, still, unnachgiebig.
Gregor erstarrt.
Sein Blick haftet am Stein,
sein Atem stockt,
die Türme der Akten wachsen im Augenwinkel.
Plötzlich eine Stimme,
metallisch, kalt,
aus einem unsichtbaren Lautsprecher,
hoch oben, wo die Decke sich wölbt:
„Drei Schreibtische zurück.
Antrag ungültig.
Platz nehmen, Großraumbüro,
neben der Tür zum WC.“
Wo es riecht nach Urin, Chemikalien,
und der humpelnden Putzkraft,
die mit Eimer und Lappen kämpft.
Alle hassen diesen Platz,
diesen Ort, an dem die Luft stillsteht,
wo selbst Hoffnung
sich im Gestank des Vorgängers auflöst.
Gregor dreht sich um,
langsam, als trage er den Stein selbst.
Die Aktenberge starren ihn an,
höher, dichter,
ein Labyrinth ohne Ausgang.
Er setzt sich,
Füllfeder in der Hand,
beginnt von vorn,
wieder und wieder.
Der Stein bleibt liegen,
ein Mahnmal, ein Klotz,
an seinem Bein gefesselt,
schweigend, ewig.
Die Tür zum Saal schließt sich,
leise, ohne Knarren.
Das Licht wird schwächer,
die Papiere rascheln,
und Gregor schreibt,
schreibt weiter,
in die Stille,
in die graue Unendlichkeit.