Sehen
Da ist eine Person die dich nicht mag
Da ist eine Person,
die dich nicht mag.
Frau A.
Vielleicht ist es sogar schlimmer,
geht schon in Richtung Hass.
Jedenfalls hast du es
in über 30 Jahren befreundeter Beziehung
nicht so wahrgenommen,
dass es so geworden ist.
Die Tatsache,
dass diese Person weiblich ist
und du männlich,
und dass ihr Mann, Herr A.,
ein dir noch näherer Freund ist,
den du auch noch ein paar Jahre länger kennst als sie,
hat erstmal nichts Besonderes an sich.
Ja, es geht – auch – um Freundschaft.
Eine so lange Freundschaft.
Die Person,
die dich nicht mag,
hat im Verlauf all dieser Jahre,
zusammen mit ihrem Mann
und mit dir und deiner Frau,
diese Freundschaft mit aufgebaut
und auch gepflegt.
Regelmäßig seid ihr
zusammen mit euren Kindern,
über viele Jahre
in den Urlaub gefahren.
Diese Freundschaft tat dir und deiner Frau
immer sehr gut,
und du bist selbstverständlich davon ausgegangen,
dass es bei ihr und ihrem Mann
und ihren und deinen Kindern
genauso gewesen ist.
Doch schon in den ersten Jahren
schlich sich ein unterschwelliges Gefühl ein,
dass diese Person,
von der du heute sicher weißt,
dass sie dich nicht mag –
oder sogar hasst,
es mit dir nicht allzu gut meint.
Es gab mehr und mehr Situationen,
in denen du genau spürtest,
dass diese Person dir gegenüber ablehnend ist –
trotz der offen gelebten gemeinsamen Freundschaft.
Du hast dir dann wohl immer gesagt:
„Unsere Chemie stimmt nicht so ganz überein…
was soll’s…
nicht weiter schlimm…
alles andere ist doch gut!“
Bei ihrem Mann und deiner Frau
war es genau umgekehrt.
Sie mochten sich sehr gut
und haben auch keinen Hehl daraus gemacht,
weil es völlig harmlos war
und zur guten Gemeinschaftsstimmung beigetragen hatte.
Genauso wie das Verhältnis
der beiden Frauen untereinander
und das mit dir und ihrem Mann – deinem Freund –
auch immer gut und harmonisch war.
(Zumindest hat sich das so angefühlt.)
Auch zusammen mit den Kindern –
alles war gut
und eitel Sonnenschein.
Im Verlauf der vielen Jahre,
im Verlauf der langen Freundschaft,
gab es,
wie in jeder Ehe,
wie in jedem Leben,
diverse Probleme zu bewältigen,
und auch die eine oder andere Krise,
hier wie dort,
wurde spürbar.
Es gab darüber Gemeinschaftsgespräche
und auch Einzelgespräche in aller Freundschaft,
und es gab weiterhin immer
schöne Tage und schöne Zeiten,
die ihr miteinander verbrachtet.
Doch wann genau hast du bemerkt,
dass das,
was du weiterhin für Freundschaft gehalten hattest,
schon lange Feindschaft war?
Wann ist dir aufgefallen,
dass, wann immer du den Hof der beiden betreten hast,
dich ein Unbehagen überkam,
das du dir nicht erklären konntest?
Wann ist dir aufgefallen,
dass dich dort sämtliche Menschen,
die mit den beiden in einem Haus wohnen,
zwar grüßen,
aber ansonsten dich mit feinen Nadelstichen stechen,
deren Stiche du nicht als solche wahrnahmst?
Wann ist dir aufgefallen,
dass sich ähnliche Szenen
auch bei größeren freundschaftlichen Zusammenkünften ereigneten,
wie etwa bei Partys,
Sportevents,
Ausflügen oder Geburtstagen?
Wann ist dir aufgefallen,
dass du auch bei solchen Zusammenkünften
mit Nadelstichen bedacht wurdest?
Warum warst du so naiv zu glauben,
all das sind freundschaftliche Neckereien,
die sich in allen Freundeskreisen auch abspielen?
Deine Frau hat dich hin und wieder darauf aufmerksam gemacht,
indem sie dir sagte:
„Merkst du das eigentlich nicht,
wie dich der… oder die… anpieksen?
Spürst du die Sticheleien nicht?“
Natürlich hast du etwas gespürt,
aber du hast es nicht sonderlich ernst genommen,
hast es auf die leichte Schulter genommen.
Das ist deiner Leicht- und Gutgläubigkeit
anderen Menschen gegenüber geschuldet.
Bis es dann zur Katastrophe kam…
Ja, da bist du dann endlich aufgewacht.
Jetzt siehst du klar.
Sie, die dich nicht mag,
die dich noch nie mochte,
hat endlich zugeschlagen.
Deine Frau hat es zuerst abgekriegt,
und das Abgekriegte an dich weitergegeben.
Die Wunde schmerzt noch heute,
die Narbe wird sich niemals schließen.
Vor allem deshalb,
weil dein alter, alter Freund,
nichts dazu sagte,
und nichts dagegen tat.