Sehen

Das Hotel zum heiligen Ständer

Jan-Josef Markwort

In der Stadt kursiert ein Flüstern,
das sich wie ein feuchter Fleck ausbreitet:
SIE ist da.

Nicht irgendeine, nein,
DIE SIE.

Die, von der man sagt,
sie könne einen Mann mit einem einzigen Blick
so hart machen,
dass er danach drei Tage humpelt.

Angeblich hat sie im „Grand Imperial“
die gesamte siebte Etage gemietet,
Vorhänge zu,
Champagner kalt,
Bettlaken schon durchgeschwitzt.

Man erzählt sich,
sie empfange selektiv.
Mal einen Bankvorstand,
mal einen arbeitslosen Schauspieler,
mal drei Studenten gleichzeitig,
Hauptsache, sie bringen frische Ideen
und ausdauernde Lenden mit.

Ich höre das natürlich nur nebenbei,
beim Friseur, im Fahrstuhl, im Puff um die Ecke.
Immer dasselbe Geflüster:
„Hast du gehört? Sie macht’s ohne Gummi, wenn man sie nett bittet…
nein, Quatsch, sie verlangt doppelt, wenn man ohne will…
nein, sie lässt sich nur lecken, alles andere ist ihr zu profan…“

Jeder weiß etwas, keiner war dabei.
Perfekte Voraussetzung, um selbst hinzugehen.

Also ziehe ich mein bestes Hemd an,
das mit den Flecken von letzter Woche,
und marschiere los.

Schon im Foyer steht die Schlange.
Kein Witz. Eine richtige Schlange.

Vom Pagen bis zum Oberbürgermeister,
alle mit demselben dümmlichen Grinsen
und derselben Beule in der Hose.

Manche haben Nummernziehen,
andere versuchen sich vorzudrängeln
mit dicken Briefumschlägen
oder dem Versprechen,
hinterher eine Spende für notleidende Models zu tätigen.

Vorne, am Tresen, steht ein Typ mit Goldkette
und erklärt wichtig:
„Zimmer 712, aber nur nach Voranmeldung
und nur, wenn sie Lust hat.“

Daneben ein Schild:
„Heute schon 47 Herren glücklich gemacht – Kapazität fast erreicht.“

Ein älterer Herr vor mir wird abgewiesen,
weil sein Bauch zu sehr wabbelt.
„Tut mir leid, sie steht heute auf athletisch“,
sagt der Goldkettige.

Der Abgewiesene zieht heulend ab
und murmelt etwas von „früher war alles besser“.

Ich stelle mich brav an.
Drei Stunden später bin ich dran.

Der Aufzug riecht nach Parfüm, Schweiß
und geplatzten Träumen.

Vor 712 steht ein Eimer mit benutzten Kondomen –
Recycling für den guten Zweck, steht drauf.

Ich klopfe.
Keine Antwort.
Klopfe lauter.

Ein Seufzen von drinnen.
„Herein, wenn’s kein Arschloch ist.“

Ich trete ein.
Das Zimmer ist dunkel, nur eine rote Lampe brennt.

Auf dem Bett liegt… niemand.

Stattdessen ein Zettel:
„War schön mit euch allen,
aber jetzt hab ich echt genug.
Geht nach Hause und wichst euch einen.
LG, Eure Gerüchteküche.“

Unten im Foyer die nächste Schlange.
Diesmal für die Rezeption,
weil alle ihr Geld zurückwollen.

Der Goldkettige ist verschwunden.

Irgendwer behauptet,
SIE sei gar keine Sie,
sondern ein PR-Gag vom Hotel,
um die Übernachtungspreise zu rechtfertigen.

Ich gehe nach Hause,
allein, mit hängenden Ohren
und stehendem Glied.

Morgen, denke ich,
erzähle ich im Büro,
ich hätte sie dreimal gehabt.
Mit Details. Sehr plastischen.

Dann stehe ich endlich mal selbst
in der Schlange derer,
die angeblich waren, wo keiner war.

Denn Gerüchte, das weiß doch jedes Kind,
leben nur, solange niemand sie überprüft.

Und genau deshalb funktionieren sie so verdammt gut –
besonders, wenn es um das geht,
was wir alle am meisten wollen
und am seltensten kriegen.

Zugriffe gesamt: 8