Sehen

Der Schatten vor dem Palais Bottée

Luiz Goldberg

In der Rue Saint-Denis,
wo Paris nachts seine Maske fallen lässt
und die Laternen wie müde Kupplerinnen flackern,
steht das Haus der Amazone Bottée,
ein altehrwürdiges Bordell
mit schweren Samtvorhängen
und einem diskreten Messingschild,
das nur Eingeweihte entziffern.

Hier regiert kein grelles Neon,
sondern ein gedämpftes Rosa,
das durch die Butzenscheiben sickert
und sich auf dem Pflaster in schmutzigen Pfützen spiegelt.

Er kommt jede Nacht.
Nicht laut, nicht fordernd,
wie ein Kater, der sich selbst belügt,
er sei nur auf Mäusejagd.

Mal trägt er einen teuren Mantel,
mal eine abgewetzte Lederjacke,
aber immer dieselbe Unsicherheit im Schritt.

Hin und her,
dreißig Meter vor,
zwanzig zurück,
als müsse er die Fassade abtasten
wie ein Blinder die Brailleschrift der Sünde.

Die Concierge im Erdgeschoss kennt ihn schon;
sie nennt ihn leise „le chat timide“,
den scheuen Kater,
und lächelt wissend in ihren Cognac.

Manchmal bleibt er stehen,
fingert ein Feuerzeug hervor,
zündet sich eine Gauloise an,
nur um sie nach zwei Zügen wieder auszudrücken.

Der Rauch steigt auf
wie ein stummer Hilfeschrei.

Drinnen hört man gedämpftes Lachen,
das Klirren von Gläsern,
das leise Schnappen eines Strumpfbandes.

Alles klingt nach Erlösung,
und nach Verdammnis zugleich.

Er weiß, was hinter der schweren Eichentür wartet:
die Amazone selbst,
groß, mit Stiefeln bis zu den Oberschenkeln
und einem Blick, der Männer klein macht,
bevor sie überhaupt den Mund öffnen.

Man sagt,
sie kann einen Mann mit einem einzigen Wort
zum Bettler machen oder zum König,
je nachdem, wie viel Scham er noch mitbringt.

Und er bringt jede Menge Scham mit.
Ehefrau, Kinder, Vorstandssitzung um neun,
all das hängt an ihm wie unsichtbare Ketten.

Einmal hat er es fast geschafft.
Stand schon auf der Schwelle,
die Hand an der Klingel.

Dann kam ein Paar vorbei,
sie im Pelz, er mit Aktenkoffer,
und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde.

Er sah das spöttische Lächeln des Mannes,
das mitleidige der Frau,
und zog die Hand zurück,
als hätte er sich verbrannt.

Seitdem kreist er nur noch enger,
immer engstirnigere Kreise,
ein Satellit, der sich nicht traut,
auf dem Planeten der Begierde einzuschlagen.

Die Passanten haben ihn längst durchschaut.

Der Zeitungsverkäufer grüßt ihn
mit einem „Bonsoir, Monsieur Indécis“,
die Nutten auf der gegenüberliegenden Straßenseite
kichern und werfen ihm Kusshände zu,
die er nicht erwidert.

Er ist ihr Lieblingsgespenst,
der Mann, der kommt, um nicht zu kommen.

Eines Tages wird er vielleicht klingeln.
Oder eines Tages wird er einfach umdrehen
und nie wiederkommen.

Beides wäre Erlösung,
und beides wäre Niederlage.

Bis dahin schleicht er weiter,
der Kater vor dem Mausloch,
das sich nie öffnet,
weil er selbst den Schlüssel dazu in der Tasche trägt
und ihn doch nicht benutzen will.

Und irgendwo lacht die Amazone Bottée
leise in ihr Champagnerglas,
denn sie weiß:
Die größte Peitsche
ist immer noch die eigene Feigheit.

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