Sehen

Die gelben Raben

Luiz Goldberg

In der grauen Enge der Stadt,
wo Häuser wie Aktenordner
sich schweigend stapeln,
hoch und höher, ein Labyrinth
aus Beton und stummen Fassaden,
erscheinen die gelben Raben.
Ihre Flügel schneiden die Luft,
präzise wie ein Skalpell,
folgen einem unsichtbaren Protokoll,
geschrieben in einer Sprache,
die niemand je gelesen hat.
Auf den Dächern tanzen sie,
ein Ballett ohne Rhythmus, ohne Klang,
ihre Schatten gleiten über Schornsteine,
als wollten sie die Stadt neu zeichnen.
Doch die Sonne, unbarmherzig,
stürzt sie kopfüber hinab,
ein Wirbel aus Federn, ein Sturm aus Dunkel,
und sie erwachen, verwandelt –
grün-rote Clowns, Gesichter aus Kreide,
Münder zu Grinsen verzerrt,
als hätten sie die Wahrheit gesehen
und könnten sie nicht ertragen.
Im Stechschritt marschieren sie,
durch Straßen, die nach Papier riechen,
als folgten sie einem Befehl,
ausgestellt von einem Amt,
das niemand je betreten hat.
Die Bürger starren aus Fenstern,
ihre Blicke wie Stempel auf Formularen,
registrieren, bewerten, vergessen.
Die Clowns-Raben, gefangen im Takt,
schreiten weiter, vorbei an Laternen,
die wie Wächter der Ordnung leuchten,
hin zum Friseursalon,
jenem Ort, der wie ein Gerichtssaal wirkt.
Spiegel, kalt und unerbittlich,
fällen Urteile ohne Worte.
„Komplett enthaaren“, spricht der Friseur,
Stimme stumpf wie ein alter Aktendeckel.
Maschinen surren, Scheren,
schneiden Federn, schälen Identität,
bis die Kreaturen nackt sind,
glatt wie neu gedruckte Seiten,
ohne Makel, ohne Geschichte.
Hinaus treten sie, verletzlich,
in eine Welt, die sie nicht erkennt.
Ihr Weg führt zum Zoo,
wo Gitterstäbe wie Zahnstocher
in den Himmel ragen,
jede Stange ein spitzer Paragraph,
jede Lücke ein verlorener Gedanke.
Dort lauert der Mob, eine Masse,
die ihre Rechte einzufordern scheint,
doch ohne zu wissen, welche.
Worte fliegen wie Steine,
Hände packen die Kreaturen,
tauchen sie in schwarze Farbe –
die Farbe der Norm, der Akzeptanz,
die Farbe, die alles gleichmacht.
Notdürftig gefedert, in billige
Rabenkostüme aus Stoff gezwängt,
stehen sie da, lächerlich, fremd.
„Tanzt!“, brüllt der Mob,
und die Raben tanzen,
ein endloses Ballett der Unterwerfung,
Schritte schwer wie Kettenglieder,
Flügel, die nie wieder fliegen.

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